Athiopien II (Teil 2)

Wir erreichen am Nachmittag Jinka. Das Kaff liegt am Rand des Omo- und Mago-Nationalparks und ist Ausgangspunkt für unsere Expedition ins Land der Mursi, ein als aggressiv geltender, nomadischer Volksstamm mit weniger als 10000 Angehörigen. Mitten im Ort in einem üppigen Garten gelegen: die Jinka-Lodge, ein in die Jahre gekommenes Hotel, dessen Glanz alter Tage von einer staubigen Patina überdeckt ist. Wir nehmen uns ein Zimmer und bummeln bei Sonnenuntergang durch einen Ort wie aus einem äthiopischen Bilderbuch. Kleine Geschäfte aus Wellblech und Holz entlang einer viel zu breiten, löchrigen Hauptstraße. Menschen sitzen davor in Grüppchen zusammen, palavern, gestikulieren, winken uns zu. Das Abendlicht wirft lange Schatten. Eine Tankstelle, wo das Benzin in Fässern verkauft wird, hat den Namen Obama und wirbt für sein Motoröl mit dem Spruch "Yes, we can!". In der Ferne leiert der Pope, Hupen quäken, Mopeds knattern, Kinder rufen, Hunde bellen - kleinstädtische afrikanische Symphonie!

Die Nacht ist kurz. Bei Sonnenaufgang erwartet uns Anteneh. Wieder hat er einen Führer dabei: ein kleingewachsener Einheimischer vom Stamm der Arri, der aber die Sprache der Mursi beherrscht. Kuku heißt er und mit seiner äußeren Erscheinung würde er sogar in Addis als Penner durchgehen: zerschlagenes, vernarbtes Gesicht, zerrissene Klamotten, gewöhnungsbedürftiges körpereigenes Odeur. Er nimmt auf dem Beifahrersitz Platz und wir brechen auf. Zweieinhalb Stunden wird die Fahrt hinunter ins Tal zum Mago-Fluss dauern. Auf den ersten Kilometern windet sich die Piste durch unerwartet grünes Bergland. Wir sprechen uns über die Strategie für unseren Besuch in einem Dorf der Mursi ab, in der Hoffnung, dass sich das Desaster von Gestern nicht wiederholt. Kuku gibt gute Tipps, macht die richtigen Vorschläge. Anteneh hat ihn ganz offensichtlich gründlich gebrieft. Wir lernen die wichtigsten Wörter ihrer Sprache: "atschaliso" (hallo), "atscheli" (danke), "halale" (tschüss), "garsi" (nein), "unanga halale" (später).

 

Wir passieren das Gate zum Mago-Nationalpark. Wieder steigt ein bewaffneter Scout mit Kalschnikow ein. Nun sitzen vorne drei einheimische Betreuer, die zwei deutsche Touristen durchs Land karren. An einer baumfreien Kante halten wir kurz. Wir steigen aus dem Fahrzeug und blicken tief hinab in eine weite Senke, hinab in eine andere Welt, ins Herz von Afrika, in die Wiege der Menschheit. Vom ersten Tag unserer Vorplanung zu dieser Afrikadurchquerung an galt für uns das Omo-Tal immer als Synonym für die Wildheit des Kontinents einerseits und für die Herausforderung dieser Reise andererseits. Da stehen wir nun und keiner spricht ein Wort. Eine sonderbare Stimmung ergreift mich. Erfurcht und Stolz, Anspannung und Gefasstheit, Erregung und Ruhe ..., ein befriedigendes Gefühl des Angekommenseins.

 

Der Land Cruiser müht sich über steile, enge Pfade hinab in die Tiefe. Mit Mathilda wären wir hier nicht 'runtergekommen. Unten öffnet sich die Savanne. Die Temperaturen sind merklich gestiegen. Wir fahren durch eine weite, goldgelbe Steppe. Eine Gazelle kreuzt die Piste, dann eine Rinderherde - unser erster Kontakt mit den Mursi. Hirten führen ihr Vieh vor sich her. Oder sind es Krieger? Großgewachsene, muskulöse Männer mit bemalten Gesichtern und spärlich Stoff um die Hüften gebunden. Einige sind komplett nackt. Letztes Jahr, erzählt uns Kuku, gab es Krieg zwischen den Mursi und einem Nachbarvolk. Es ging um Weidefläche für die Viehherden. 180 Tote gab es bei den Kämpfen. Darüber berichtet kein CNN. Rinder dienen auch bei den Mursi vor allem als Ausdruck des sozialen Prestiges und des Wohlstands denn als Nahrung. Selten wird eine Kuh geschlachtet. Statt dessen Jagen die Männer Wildtiere, die durch die großen Viehherden allerdings immer weniger Lebensraum hier finden.

 

Wir passieren mehrere Siedlungen, lassen sie aber links liegen und fahren tiefer ins Land hinein. Kuku führt uns an einen entlegenen Ort, wo nur selten Tourgruppen aufkreuzen. Schließlich halten wir in einigem Abstand vor den Hütten eines kleinen Dorfes unweit des Mago-Flusses. Wie vorher abgesprochen steigen wir ohne Kameras aus. Schnell kommen die Dorfbewohner auf uns zugerannt und drohen uns wie gestern bei den Hammar zu belagern. Doch Kuku spricht einige Worte zum Dorfoberhaupt, der daraufhin seine Leute zur Ruhe auffordert. Kuku richtet ein paar Sätze an die Menschen - wer wir sind, dass wir uns freuen, hier zu sein und derlei Höflichkeiten. Vor allem aber sagt er, dass wir zunächst keine Fotos machen wollen, dass dafür später noch Zeit bleibt. Und es funktionier. Schnell verstreut sich das Volk, geht wieder seinen Beschäftigungen nach.

 

Mit dem Dorfoberhaupt - Karamulu ist sein Name - spazieren wir zunächst hinunter zum Fluss, gefolgt von einigen Kindern, die aber respektvollen Abstand wahren. Unser Scout nimmt seinen Job ernst: mit der Waffe in der Hand stellt er sich zwischen uns und die Kinder. Was heißt "Sachte, sachte, mein Lieber!" auf amharisch? Wir versuchen eine Unterhaltung mit Karamulu - Kuku übersetzt - und wir erfahren interessantes: Jetzt in der Trockenzeit nutzen die Menschen das fruchtbare Ufer des Mago-Flusses, um Bohnen, Mais, Erbsen und Sorghum (Mohrenhirse) anzubauen. Während der Regenzeit verlassen sie ihre Hütten im Tal und ziehen weiter hinauf in die Berge. Morgens trinken sie einen Cocktail aus Rinderblut und Milch. Das Blut der Rinder wird durch einen gezielten Schuss mit Pfeil und Bogen gewonnen. Es fließt aus der Ader direkt in ein Gefäß und wird, mit der Milch gemischt, sofort getrunken. Die Rinder verkraften diese wiederkehrende Prozedur problemlos.

 

Karamulu führt uns zurück in sein Dorf. Etwa 30 Hütten bilden die Siedlung - flache, bienenkorbartige Geflechte aus dünnen Ästen, die nur einen sehr niedrigen Eingang haben. Mursi-Männer errichten die Hütten für ihre bis zu 3 Frauen. Sie selber haben keine eigenen Hütten, sondern wohnen abwechselnd bei ihren verschiedenen Weibern. Abgesehen von den Schusswaffen der Männer und ein paar wenigen Plastikflaschen finden wir keinerlei Insignien der westlichen Konsumwelt. Die Mursi entziehen sich unserer "Zivilisation" erstaunlich konsequent, trotz der Touristen, die hier während der Trockenzeit regelmäßig auftauchen. Das Dorfoberhaupt bittet uns zu einer Hütte und fordert uns auf, einzutreten. Auf allen Vieren schlüpfen Kuku, Sabine und ich in ein finsteres Gewölbe. Unsere Augen gewöhnen sich erst allmählich  an die Dunkelheit. Die Luft ist heiß hier drinnen, staubig und dick. Es riecht schwer nach menschlichen Ausdünstungen und nach Rauch. Eine junge Mutter sitz an einer Glutstelle, ihren Säugling im Arm. Beide sind krank. Sabine fühlt mit ihrer Hand die Stirn von Mutter und Kind. Sie haben Fieber. Karamulu bitte Kuku, Medikamente aus Jinka zu bringen. Wir versprechen, uns um die Angelegenheit zu kümmern.

 

Wieder draußen beobachten wir das Treiben um uns herum. Mursi-Frauen tragen große Scheiben aus Ton in der Unterlippe (Tellerlippen). Hierzu wird den Mädchen nach Ausbrechen der zwei  unteren Schneidezähne die Unterlippe durchbohrt und ein Holzstift durchgesteckt, der verhindern soll, dass die Lippe wieder zusammenwächst. Durch eine allmähliche Vergrößerung des Holzstiftes wird die Lippe ausgedehnt. Im Endstadium wird eine Tonscheibe mit einem Durchmesser von bis zu 15 cm eingesetzt. Eine entsetzliche Form der Selbstverstümmelung. Und es geschieht nicht freiwillig, wie uns das ethnologische Museum in Jinka weiß machen will. Mursi-Frauen stehen unter sozialem Zwang. Ohne Tellerlippen ist es ihnen nicht einmal erlaubt, zum Fluss zu gehen. Sie finden keinen Mann und werden als Aussätzige behandelt. Das alles erfahren wir von Kuku, und es gibt keinen Grund, ihm nicht zu glauben.

 

Wir wollen die Geduld unserer Gastgeber nicht überstrapazieren. Allmählich bewegen wir uns zurück zum Land Cruiser, der von Anteneh bewacht wird. Kaum haben wir den Geländewagen erreicht, reihen sich rund 20 Dorfbewohner nebeneinander auf und bieten sich als Modell an. Frauen haben ihre Teller eingesetzt, Kinder tragen wilden Schmuck, Männer halten Kalaschnikows oder Kampfstöcke in den Händen. In einer glücklichen Vorausahnung habe ich einen schwarzen Stoff mitgenommen, den wir ans Fahrzeug hängen. Ich hole die Kamera aus dem Wagen, übergebe Kuku einen Bündel Ein-Birr-Scheine und beginne mit meiner Arbeit. Die Leute sind ruhig, keiner drängt sich auf. Vielleicht 10 Menschen bitte ich nacheinander, vor den Stoff zu treten. Der Ablauf ist gesittet, beinahe würdevoll. Ich muss kaum Anleitungen geben. Mit großem Ernst bewegt sich jeder einzelne vor der Kamera und erhält danach von Kuku sein verdientes Honorar.

 

Das alles mag sich furchtbar geschäftig anhören. Doch genau das ist es, ein Geschäft. Fototourismus ist umstritten am Omo und bleibt sicherlich nicht ohne Auswirkungen auf die Naturvölker. Die Frage ist nur: sind diese Auswirkungen schädlich oder dienlich, und wem steht es zu, darüber zu urteilen? Jeder Murci ist froh über diese zusätzlich eingenommenen Birr, auch wenn er sie am Ende nicht für die kranke Frau und ihren Säugling in der Hütte nebenan ausgibt, sondern für Munition oder Alkohol. Er sieht darin keine Erniedrigung. Wenn wir es dennoch tun, geschieht das nicht aus einer geglaubten Überlegenheit heraus? Ist das nicht eine neuerliche Form von Entmündigung?

 

Wir holpern zurück nach Jinka. Es ist still während der Fahrt. Selbst Kuku hält seine eigentlich unermüdliche Klappe. Im Städtchen verabschieden wir uns von ihm. Wir geben ihm genügend Geld, damit er die kranke Mutter und ihren Säugling in die Stadt zum Arzt bringen kann. Einfach auf Verdacht ein paar Medikamente zu kaufen scheint uns keine gute Idee zu sein. Wir ringen ihm das Versprechen ab, sich um die beiden zu kümmern und uns per Email auf dem Laufenden zu halten. Darüber hinaus kriegt er seinen vereinbarten Lohn und ein faires Trinkgeld. Er hat seinen Job wirklich gut gemacht. Anteneh bringt uns zurück in die Jinka-Lodge. Weiß der Himmel, wo er die Nächte verbringt. Er rückt damit nicht so recht heraus, und wir wollen nicht neugierig sein. Aber wir wissen, dass er sein funktionierendes Netzwerk hat. Am nächsten Tag bewegen wir uns allmählich über Konso und Yirgalem Richtung "nachhause", Richtung Addis Abeba. Zwei Tagesreisen sind es, bis wir uns vor unserem Hotel in der Hauptstadt voneinander verabschieden. Das geschieht nicht völlig emotionsfrei. 10 Tage gemeinsam durch ein wildes Land wie dem Omo Valley zu reisen schafft eine Verbundenheit und Nähe - selbst wenn es für Anteneh alltäglicher Job ist.

 

An der Rezeption werden wir begrüßt wie alte Freunde. Wir beziehen unser Zimmer, duschen den halben Nachmittag und finden uns am Abend an der Bar von Wim's Holland House wieder. "Geschichte wiederholt sich", heißt es. Aber auch: "Wir sind die Summe unserer Erfahrungen".

 


Bildergalerie: Menschen am Omo


Kaffee-Zeremonie

In einem Dorf der Sidama wurden wir von Mutter Almas eingeleiden, in ihrer Hütte zusammen mit acht ihrer zehn Kindern und ihrer Mutter an einer Kaffee-Zeremonie teilzunehmen.