Kenia II

"Man sollte Afrika aus der Luft sehen, das ist sicher. Dort erst entdeckt man die ungeheuren Weiten", schrieb Karen Blixen in ihren Aufzeichnungen. Wir hätten sie ja nicht gleich beim Wort nehmen müssen. Ich kauere auf meinem Fensterplatz in einem einmotorigen Propellerflugzeug hoch über der endlosen Savanne Kenias. 12 Menschen bietet die Maschine Platz. Jeder Sitz ist belegt. Vor einigen Minuten sind wir von Nairobi aus gestartet Richtung Südwesten, Richtung Masai Mara. Jetzt holpert der Flieger durch die Luft wie über eine Geröllpiste. Nur dass wir nicht in Schlaglöcher stürzen sondern in abgrundtiefe Luftlöcher. Meine Finger krallen sich an die Lehne des Fordersitzes, mein Körper ist schweißnass, mein Geist dreht sich um Flugzeugabstürze in einsamer Wildnis, wo die wenigen Überlebenden sich gegenseitig aufessen. Und um die Frage, ob es in der Tasche vor mir wohl eine Kotztüte gibt.

Sabine liest neben mir in einer Bordbroschüre. Wie kann sie nur so abgebrüht sein? Ans Hinausschauen ist nicht zu denken. Statt dessen starre ich durch die Reihen hindurch auf das Cockpit und versuch mich abzulenken, in dem ich die Funktionen der zahllosen Uhren entschlüssele: Höhenmesser, Geschwindigkeit über Boden, Motordrehzahlen, ... dann entdecke ich dieses rote Lämpchen, das fortwährend blinkt. Holy shit! Ein rotes Lämpchen, das in einem Flugzeug blinkt, ist nicht gut! Hier haben grüne Lämpchen zu blinken, keine roten! Sollte ich mich vormühen und den Piloten darauf aufmerksam machen? Aber dass schaffe ich nicht, ohne mich und die anderen Passagiere auf den Weg dorthin anständig vollzukotzen ...!

Wären wir mal am Boden geblieben. Da ist dieses Land nämlich fantastisch genug. Schon immer stand für mich der Name Kenia als Synonym für die Kraft und Magie des alten Afrikas: die ungeheure Weite der Savanne; die wunderliche Form der Schirmakazie; die in einem Staubsturm fliehende Gnu-Herde; die Hitze des Mittags, in der eine senkrecht stehende Sonne die Fata Morgana eines palmenumstandenen Sees erzeugt; die wie Diamanten funkelnden Sterne eines prachtvollen Nachthimmels; ... poetische Auszüge meines von Meryl Streep und Robert Redford in "Out of Africa" inspirierten Keniabildes. Derzeit wird der Film im Kopf zur Wirklichkeit.

Im Samburu Nature Reserve im Norden des Landes tasteten wir uns das erste Mal an die Wildnis heran. Wir rollten langsam über holprige Piste durch ein gelbe Steppe auf rostrotem Boden. Feldstecher im Anschlag, 400er auf dem Gehäuse, wir waren gerüstet für die Big Five, für Elefant, Löwe, Leopard, Büffel und Nashorn. Vor die Linse bekamen wir aus diesem Eliteclub nur den Elefanten. Aber auch Giraffen, Zebras, Gazellen, Antilopen und Paviane, die sich abends in unserem Camp am Ufer des ausgetrockneten Flusses über unsere Keksreserven hermachten. Eine von vielen Lehrstunden in diesen Tagen: niemals die Fenster am Fahrzeug geöffnet lassen. In der Abenddämmerung begannen die Affen in den Bäumen zu tanzen, und manchmal lachten sie gellend. Nach und nach erhoben sich andere Stimmen: murmelnd, zirpend, brüllend. Es brach eine laute Nacht an voll seltsamer, beunruhigender Geräusche, gegen die unsere Wohnkabine nur einen unzureichenden Schutz zu bieten schien. Da lagen wir in unserer Koje und lauschten gespannt dieser fremden Klangkulisse. Da waren wir ihr nah, der Wildnis, ganz nah. Noch näher wäre gefährlich gewesen ... .

Auf den Straßen des Landes Richtung Nairobi ging es zu wie in einem Irrenhaus. Die so lebenslustigen und hilfsbereiten Kenianer, in die wir uns vom ersten Tag an verliebt hatten, werden im Auto zu Monstern. Auf den weniger als 250 Kilometern passierten wir einen umgestürzten Kleinbus, wo verletzte Passagiere gerade herausgezogen wurden, mehrere schlimme LKW-Unfälle, ein toter Mann lag am Straßenrand in seiner eigenen Blutlache, von einem japanischen Kleinwagen über den Haufen gefahren. Wir unterbrachen unsere Fahrt für kurze Stopps in ärmlichen, staubigen Städtchen und wurden dort von liebenswürdigen Menschen aufgehalten, die nicht um ein Paar Scheine bettelten, sondern neugierig fragten und begeistert erzählten. Lebenslust und Tod lagen nah beieinander an diesem Tag. Vielleicht eine sehr afrikanische Realität.

In Nairobi verbrachten wir eine Woche. Wir schlugen unser Lager in Karens Camp auf, ein Overlander Treffpunkt, wo außer uns nur noch ein silberfarbener Landrover mit Augsburger Kennzeichen stand. Der Stadtteil Karen in Nairobi ist das Afrika der weißen Diplomaten, Entwicklungshelfer und Auslandskorrespondenten mit klimatisierten Häusern und weitläufigen, duftenden Gärten, mit üppig bestückten Supermärkten, Sushi Restaurants und Range Rovers auf gepflegten Straßen. Hier kriegten wir nichts vom heißen, staubigen, schmutzigen, stinkenden Nairobi mit, vom Nairobi der Armut, ohne Strom und Telefon, ohne sauberes Wasser und ohne kühles Bier. Immer wieder ziehen wir uns in solche Enklaven zurück, weil wir verschnaufen müssen. Weil uns sonst die Wucht der Erlebnisse zu erdrücken drohen. Auf Entbehrung folgt Entspannung.

 

Wir besuchten das Haus, das Karen Blixen bewohnt hat: Damals eine einsame Farm am Fuße der Ngong-Hügel, heute inmitten der Stadt gelegen und als Museum hergerichtet. Hier wurden seinerzeit Außenaufnahmen zu "Out of Africa" gedreht - die Innenräume wirkten ein bisschen enger, als wir sie vom Film in Erinnerung hatten. Ein paar Requisiten erkannten wir sofort - das transportable Grammophon, die Kuckucksuhr, Redfords Hosen hingen überm Stuhl. Ich war ganz ergriffen.

Dann Richtung Südosten, 250 Kilometer in den Amboseli Nationalpark. Der schneeweiße Gipfel des jenseits der tansanischen Grenze gelegenen Kilimandscharos erhob sich wie ein Traumbild über der Ebene. In seinem Schatten grasten Gnus und Antilopen, Giraffen und Elefanten, sogar Nilpferde wanderten mit ihren Stummelbeinen träge über das Land. Wir mittendrin fühlten unsere Herzen schlagen.

 

Am Pistenrand tauchten wie aus dem Nichts drei Masai auf. Sie hüllten ihre Körper in rote Stoffe, trugen Schmuck und Speere, von denen man annehmen durfte, dass sie keine reine Folklorerequisiten waren. Wir hielten an, grüßten einander und tauschten Freundlichkeiten aus. Ob wir ihre Siedlung besuchen wollten fragten sie uns in passablem englisch. Natürlich wollten wir. Einer der dreien, Richard nannte er sich, stieg auf die Trittsstufe und lotste uns über steinige Piste hinaus aus dem Park zu einem kreisförmig angelegten Dorf. Einfache Rundhütten reihten sich aneinander, die Wände mit Kuhdung verputzt, die Dächer mit Stroh bedeckt. Im Zentrum ein großer Platz, der früher als Nachtkoppel für die Kühe diente. Dreihundert Rinder wurden da in guten Zeiten eingepfercht, um sie vor Löwen und Leoparden zu schützen. Dann kam die große Dürre vor drei Jahren, hat die Herde dahingerafft und mit ihr das Vermögen und den Stolz der Masai. Heute gibt es vier Kühe im Dorf. Die Menschen leben von Almosen und dem wenigen, was das bisschen Tourismus hergibt.

Richard trommelte die Bewohner zusammen. Wir begrüßten die Männer des Dorfes und schütteln zahllose Hände. Die Frauen blieben im Hintergrund, sie haben keine Stimme. Man bot uns einen Willkommenstanz dar, dann gingen wir alle in die Hocke und beteten gemeinsam. Wir schlenderten durchs Dorf, Richard führte uns in die Hütte seiner ersten Frau. Wir betraten einen düsteren, heißen Raum, der in drei Bereiche eingeteilt war. Zwei enge Schlafnischen und ein zentraler Wohnbereich mit einer offenen Feuerstelle in der Mitte. Ich spürte in der drückenden Dunkelheit eine leicht klaustrophobische Anwandlung und war erleichtert, als wir durch den niedrigen Eingang wieder ins Freie traten. In der Dorfschule, einer einfachen Holzhütte außerhalb der Kreisanlage, besuchten wir Lehrer John und seine rund 30-köpfige Schar von Vorschülern. Kleine, verstaubte Gesichter starrten uns mit großen Augen an. Die Kinder quetschten sich hinter altmodische Schulbänke. Sie sagten eifrig in beschwingtem Rhythmus ihre Lehrsätze auf. Während ich fotografierte, erzählte John Sabine detailliert von seiner Arbeit im Dorf und bat höflich um eine kleine Spende, die wir ihm am Ende gerne überreichten.

Schließlich führte uns Richard durch den unvermeintlichen Kunsthandwerksmarkt des Dorfes. Schmuck und Schnitzereien wurden feilgeboten, wir kauften reichlich ein und zahlten trotz harten Verhandelns einen überhöhten Preis. Die Verhandlungsprozedur durfte sowieso eher als Ausdruck gegenseitigen Respekts verstanden werden denn als ernsthaftes Geschäftsgebaren. Die Menschen haben wenig hier, da will man sie nicht auch noch über den Tisch ziehen. Schon Anfang der dreißiger Jahre schrieb Karen Blixen über die Masai: "Sie waren Kämpfer, die aufgehört hatten zu kämpfen, wie ein sterbender Löwe mit beschnittenen Klauen, ein entmanntes Volk."

Nach zwei Stunden verließen wir das Dorf, fuhren zurück in den Nationalpark und errichteten uns im einem öffentlichen Campingplatz ein Nachtlager unter einer mächtigen Akazie. Unterhalb der schneebedeckten Kuppe des Kilimandscharos hatte sich ein Ring von wattigen Wolken gebildet, die Sonne näherte sich im Westen dem Horizont, sie warf lange Schatten über die Savanne und tauchte das Land in ein warmes, orangefarbenes Licht. Einige Zebras zogen an uns vorbei, in der Ferne beobachteten wir einen einsamen Elefantenbullen. Nach Sonnenuntergang saßen wir am Lagerfeuer und versuchten, unsere ambivalente Empfindung nach diesem Tag in vage Worte zu fassen: tiefe Herzensruhe und gleichzeitig große Bewegtheit und Betroffenheit, ein Gefühl der Verbundenheit zum wunderbaren Ganzen, und der Dankbarkeit, Teil davon zu sein ... es schien so, wie Karen Blixen - hier bemühen wir sie ein letztes Mal - ihr Afrika-Erlebnis beschrieb: "Dinge geschehen mit dir, du spürst, dass sie geschehen, aber darüber hinaus gibt es keine Beziehung zwischen dir und ihnen, du verstehst weder den Grund noch ihre Bedeutung."

 

Das alles haben wir erlebt in Kenia, ohne festen Boden verlassen zu müssen. Warum also sitze ich nun in dieser engen, dröhnenden Maschine mit blinkenden, roten Lämpchen und leide still vor mich hin? Es gibt einen guten Grund: Sabine und ich feiern unser 25-jähriges Jubiläum, das verdient eine Belohnung und die fordert eben auch ein kleines Opfer: 4 Tage Safaricamp in einem der tierreichsten Nationalparks des Landes stehen uns bevor. In der gebuchten Lodge gibt's den einzigen Weinkeller in der Masai Mara und der Koch ist ein Franzose. Da darf vorher ruhig ein bisschen gelitten werden. Bleibt noch zu erwähnen: nach einer Stunde Flugzeit landet die Maschine sicher auf einer einsamen Buschpiste - ohne, dass ich mich vorgemüht habe und dem Piloten bescheid sagen musste wegen des blinkenden, roten Lämpchens. Ach ja ... und: gekotzt habe ich trotzdem, falls das jemanden interessiert.

 


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