Ruanda

Auf nichts kann man sich verlassen in Afrika. Da stellt man sich auf langwierige, teure Einreiseprozeduren ein, wo schlecht gelaunte Zollbeamte in schäbigen Hütten Dein Carnet erst abstempeln, nachdem Du ihnen die Uniform gebügelt hast. Und dann endest Du an diesem aufgeräumten Grenzübergang, kriegst prompt und ohne horrende Gebühr, ohne fiktive Roadtax und ohne stillschweigendes Bakschisch Dein Visum und Du wirst auch noch freundlich begrüßt. Welcome to Rwanda! Und Du fragst Dich irritiert: wo ist der Haken?

Ruanda ist ein kleiner Staat im Herzen Afrikas. Zwei Volksgruppen teilen sich im Wesentlichen das Land: Hutus (ca. 83%) und Tutsis (ca. 16%). 1994 erreichte das Land seinen Point Zero. Rund 7Mio. Menschen lebten damals hier. Als die Maschine des Präsidenten (Major Juvénal Habyarimana, ein Hutu) beim Landeanflug auf den Flughafen Kigali abgeschossen wurde, löste das einer der furchtbarsten Genozide aus, den dieser Planet gesehen hat: die Hutus beschuldigten die Tutsis als Drahtzieher des Attentats. Sie ermordeten innerhalb von nicht einmal 100 Tagen bis zu eine Mio. Tutsis und gemäßigte Hutus. Sie zogen mit Machete, Knüppel und Schusswaffen von Hütte zu Hütte, zerhackten, erschlugen und erschossen ihre eigenen Nachbarn; sie drangen in Kirchen ein, in denen die Opfer Zuflucht suchten und metzelten auf unfassbar grausame Weise Männer, Frauen und Kinder nieder. Die internationale Gemeinschaft blickte tatenlos zu. Erst der Einmarsch der Tutsi-geführten RPF (Rwanda Patriotic Front) stoppte das Massenmorden. Nachdem Kigali in die Hände der unter General Paul Kagame geführten RPF viel, flohen mehr als 3Mio. Menschen in die Nachbarländer Burundi, Tansania und vor allem in den Kongo. Kagame wurde Präsident des Landes. Er ließ seine Armee in den Kongo einmarschieren, um die flüchtigen Hutus wieder zurück ins Land zu holen. Man geht heute davon aus, das im Laufe dieser militärischen Maßnahme weitere ca. 1Mio. Menschen umkamen.

 

Gerade einmal 17 Jahre liegen diese Ereignisse zurück, als wir ins Land einreisen. Der als Asket geltende Paul Kagame ist immer noch Präsident, und er führt das Land erfolgreich, aber mit autoritärer Hand. Vom Grenzübergang in die Hauptstadt sind es zwei Stunden über tadellosen Asphalt. Wir rollen durch ein hügeliges, grünes Land, und staunen über aufgeräumte Dörfer in denen uns Menschen zuwinken. Keiner hält die Hand begehrend auf. Betteln ist per Gesetzt verboten. In Kigali riskieren Kinder 3 Tage Gefängnis, wenn sie beim Betteln erwischt werden. Und als wir die Stadt erreichen, fragen wir uns abermals, ob wir eigentlich überhaupt noch in Afrika sind. Da stehen propere Häuser entlang vierspuriger Straßen mit – wir trauen unseren Augen nicht: Gehwegen. Ampeln regeln den Verkehr und was das unglaublichste ist: die Verkehrsteilnehmer halten sich daran! Keine Müllberge häufen sich in den Vorgärten. Die in afrikanischen Städten allgegenwärtigen alten Plastiktüten, die sich in Zäunen und Büschen verheddern, fehlen hier komplett. Vor Jahren sind sie verboten worden. Im gut bestückten Supermarkt im Zentrum Kigalis kriegen wir unseren Einkauf in Papiertüten verpackt.

 

Wie lebt dieses Land mit seiner jüngsten Vergangenheit? Wie gehen Hutus und Tutsi heute miteinander um? Wie ist Versöhnung möglich, wenn praktisch jede Familie Opfer zu beklagen hat? Millionen Kinder wuchsen als Weise auf, viele Krüppel humpeln auf Krücken gestützt die Straßen entlang, die Wunden sind sichtbar und noch lange nicht geheilt. Im Vorort Gisozi besuchen wir das Mémorial National du Genozid, wo mehr als 250.000 Opfer des Genozids begraben wurden. Eine umfassende Ausstellung informiert über die Hintergründe des Völkermords – wir sind sprachlos angesichts der Bilder, Zahlen und Fakten, die da präsentiert sind. Und angesichts des rasanten Wiederaufbaus, den das Land seither hingelegt hat. Man wirft Kagame vor, keine demokratischen Strukturen zu schaffen. Aber ganz ehrlich: wenn ich als Mitglied einer Minderheit, die eben noch abgeschlachtet wurde, die politische Macht innehätte, würde ich es mir auch zweimal überlegen, ein demokratisches Mehrheitswahlrecht einzuführen. Und anders als so viele Machthabende im übrigen Afrika scheint für Kagame das Wohl des Landes oberste Priorität zu haben, und nicht das Auffüllen des eigenen Schweizer Bankkontos. Bildung und Wohlstand sind für ihn Garanten dafür, dass nie wieder etwas derartiges in Ruanda passiert. Demokratie muss warten.

 

Wir spazieren unbelästigt durch die Straßen der Stadt und ertappen uns dabei, wie wir die Menschen anhand ihres Äußeren zu unterscheiden versuchen zwischen Hutus und Tutsis. Letztere gelten als groß gewachsen, mit schmaleren Nasen und feingeschnitteneren Gesichtern. Aus gutem und nachvollziehbarem Grund erklärt heute die ruandische Regierung, dass man Hutus und Tutsis nicht voneinander unterscheiden kann und dass  sich alle als Ruander zu definieren haben. Doch die Merkmale sind erkennbar und gegenwärtig. Sie zu leugnen ist Quatsch. Es gibt auch schwarzhaarige, kleine Schweden und blonde, große Türken.

 

Von Kigali aus nehmen wir uns einen Land Cruiser samt Chauffeur. Felix heißt er, ist ein freundlicher, bescheidener Mensch und ein miserabler Fahrer. Sollte ich ihm sagen, dass der Wagen auch einen vierten und sogar einen fünften Gang hat? Ich verkneife es mir. Land Cruiser sind Gott sei Dank hart im Nehmen. Nach 2 Stunden und konstanten 5000 U/min erreichen wir Musanze im bergischen Grenzgebiet zwischen Kongo, Uganda und Ruanda. Die Stadt ist von Vulkanen umgeben. An ihren waldigen Hängen leben die letzten Berggorillas des Planeten. Wir beziehen ein einfaches Hotelzimmer im Zentrum und gehen früh schlafen.

 

Um 5:00 Uhr klingelt der Wecker, um 6:00 Uhr sitzen wir wieder im geplagten Land Cruiser. Wir fahren (5000 U/min) beim ersten Sonnenlicht des Tages in die Bergwelt hinein zum Headquarter des Parc National des Volcans. Dort stehen schon etliche weitere Geländewagen. Die Anzahl der zumeist weißen Touristen ist auf 56 limitiert. Mehr dürfen pro Tag nicht in den Nationalpark. Warum gerade 56? Es gibt in den Bergen Ruandas noch ganze 7 Gorillafamilien mit je rund 20 Tieren. Die Touristengruppen, die zu den Familien aufbrechen, dürfen nicht mehr als 8 Mitglieder haben. Insgesamt leben in diesem abgelegen Länderdreieck rund 900 der mächtigen Affen. Ihre Zahl ist konstant, sie steigt sogar wieder leicht. Wir werden einer internationalen Gruppe aus 2 Briten, 2 Südafrikanern, einer Belgierin und einem Israeli zugeteilt. Unser Führer Fidel gibt letzte Anweisungen und Regeln für den Marsch in die Wildnis, dann setzen wir uns wieder in die Fahrzeuge und nehmen die letzten 12 Kilometer schwierigste Piste hinein in die Bergwelt unter die Räder.

 

Mit Trinkwasser in den Rucksäcken und Bergstöcken in den Händen marschieren wir los. Angeführt werden wir von einem bewaffneten Scout, dann folgt Fidel, das Ende des Trupps bildet ein Machete tragender, schweigsamer Typ, der erst später seinen großen Auftritt haben wird. Die ersten Minuten geht es durch terrassiertes Ackerland. Aus dunkler, schwerer Vulkanerde wachsen üppig Gemüse und Früchte. Menschen arbeiten auf den Feldern, Kinder laufen uns nach, manche betteln gar. Hat es sich nicht bis hierher ‘rumgesprochen, dass man dafür im Knast landen kann? Die Luft ist kühl, wir müssen unsere Jacken überziehen. Bald tauchen wir in einen dichten Urwald, der die steilen Hängen bedeckt wie ein grüner Mantel. Mächtige Baumstämme wachsen in luftige Höhen, dazwischen ranken Lianen und Bryonien. Tarzans Revier. Ein lauer Wind lässt die schmalen Blätter von Bambus sanft rauschen. Es duftet würzig, modrig und manchmal auch nach süßlicher Verwesung. Der Pfad ist schmal, stellenweise matschig. Wir wandern steil bergauf und erreichen schnell Höhen von rund 2700 Metern. Die Berggipfel um uns herum ragen zwischen 3500 und knapp über 4000 Höhenmeter in den Himmel. Das Landschaftserlebnis ist grandios.

 

Fidel steht im Funkkontakt mit zwei Rangern, die seit Sonnenaufgang den Gorillas in einigem Abstand folgen. Nach anstrengenden 2 Stunden öffnet sich der Wald an der Westflanke des Berges zu einer mannshohen, dornigen Buschlandschaft. Hier gibt es keine Pfade mehr, dies ist die Stunde des schweigsamen Machetenmannes: Mit seiner Klinge schlägt er uns eine Spur ins dichte Gewächs. Mit kraftvollen Hieben durchtrennt er 5 Zentimeter dicke Stämme, als wären sie aus Butter. Riesige Nesselpflanzen stechen uns durch die Hosen und lassen bald unsere Haut brennen wie Feuer. Wir erreichen die beiden Ranger, legen Rücksäcke und Wanderstöcke ab, werden aufgefordert, zu schweigen, dann noch ein paar Meter durch dichtes Gestrüpp und ganz unvermittelt stehen wir vor unserem ersten Gorilla.

 

Es ist ein Weibchen, dass sich da unter einem schattigen Busch vor der senkrecht stehenden Mittagssonne schützt. Und wir brauchen ein Weile, ehe wir das Junge sehen, das sich an das Fell seiner Mutter schmiegt. Die Tiere zeigen sich völlig unbeeindruckt von unserer Anwesenheit. Die Mutter döst friedlich vor sich hin, das Kleine schaut uns neugierig aber ohne Angst aus großen, runden Augen an. Ein paar Meter entfernt weitere Familienmitglieder: ein halbwüchsiges Männchen. Es turnt von Ast zu Ast und gebärdet sich, wie das Halbwüchsige gerne tun; noch ein Muttertier mit einem wenige Wochen alten Baby; schließlich entdecken wir den Silberrücken der Sippe, das dominierende Männchen. Der gewaltige Gorilla nimmt kaum Notiz von uns. Er blickt kurz auf, brummt überlegen und lässt dann wieder seinen mächtigen Kopf auf die Brust sinken. Sein blauschimmerndes Fell ist am Rücken silbrig grau. Seine kraftvollen Hände ruhen auf seinem Bauch. Es sind vertraute Gebärden, die wir beobachten. Die Mimik der Tiere, ihre Körpersprache, jede Bewegung erscheint auf eine beruhigende und gleichzeitig ergreifende Art und Weise menschlich zu sein. Blicken wir hier in die Gesichter unserer evolutionären Vorfahren?

 

Nach einer Weile kommt Bewegung auf. Wie auf ein Kommando erheben sich die Gorillas, kriechen aus dem dichten Gebüsch hervor und bewegen sich gemächlich in unsere Richtung. Fidel fordert uns zum Rückzug auf, doch die Tiere zeigen sich geschickter im dornigen Busch. Sie trotten auf uns zu und halten partout nicht den Mindestabstand von sieben Metern ein, den die Nationalparkssatzung vorschreibt. Ich bin der letzte in unserer Reihe. Wir gehen um eine Biegung. Als ich mich nochmal umsehe, hat sich mir der Silberrücken bis auf kaum einen Meter genähert. Die anderen Tourteilnehmer sind bereits hinter dichtem Gebüsch verschwunden. Ich kann nicht anders, als stehenbleiben, in die Hocke gehen und einige Fotos machen (und bin so nervös, dass fast alle am Ende unscharf werden). Das Tier setzt sich hin, als wollte es posieren. Wir schauen uns einen kurzen Moment in die Augen. Während mein Blick höchstwahrscheinlich etwas angespannt wirkt, scheint sein Blick zu signalisieren: „Hallo Alter! Nur zur Info: Du machst Dich hier zum Affen, nicht ich!“ Der Gorilla setzt seinen Weg fort, und als er an mir vorbeitrottet, berührt sein Fell meine Beine.

 

Es ist – mal wieder – so eine Begegnung, die Maßstäbe zurechtrücken lässt, die dich als kleines Teilstück eines großartigen Gesamten entlarvt. Da wandert man durch tausend Welten um am Ende in ein Affengesicht zu schauen, dessen bloßer Gegenblick dir die Flügel stutzt. Solche Momente braucht es, wenn man Gefahr läuft, sich selbst zu wichtig zu nehmen. 5 Sekunden in den Bergen Ruandas ersetzen ein Jahr Therapie. Und unterm Strich hast Du auch noch Geld gespart.

 

Zwei Tage später bereits fahren wir Richtung Süd-Osten, Richtung Tansania - über glatte Asphaltstraßen, durch aufgeräumte Dörfer, an freundlich winkenden Menschen vorbei. Wie schnell und wie gerne man sich an solche Zustände gewöhnt. Gerademal eine Woche haben wir in Ruanda verbracht. Aber die Tage in diesem außerordentlichen Land waren so intensiv und nachhaltig, es kam einem gefühlter Monat gleich. An der Grenze verabschieden wir uns von einem netten Zollbeamten, um auf der anderen Seite von einer Bande Uniformierter in Empfang genommen zu werden, die uns mit selbstgefälliger Dreistigkeit um insgesamt 240 U$ erleichtern, ehe wir überhaupt einreisen dürfen nach Tansania.

 

Ach ja, wir sind wieder in Afrika …