Äthiopien II (Teil 1)

Es gibt Städte auf dieser Reise, die sind gerade attraktiv genug, um das Auto vollzutanken, die Lebensmittelreserven aufzufüllen und die Wäsche waschen zu lassen. Dann aber schnell das Weite suchen! Addis Abeba steht auf der Liste dieser Städte ziemlich hoch oben, sicherlich vor Damaskus und Kairo, mit großer Wahrscheinlichkeit vor Nairobi und eventuell sogar noch vor Khartum (okay, das geht vielleicht zu weit). In Addis Abeba 3 Wochen zu stranden kommt einem Super-GAU ziemlich nahe, übertroffen nur noch von malariabedingter Geistesgestörtheit oder Tod durch Rebellenbeschuss.

Erinnern wir uns: Addis sollte Fluchtort sein nach unseren Frusttagen im Norden. Einige Zeit Abhängen im komfortablen, von der Außenwelt abgeschirmten Hotel, das einem das Gefühl gibt, in Kalifornien zu sein. Derweil kriegt Mathilda bei der Mercedes-Werkstatt einen kompletten Service. Das war der Plan und er war nicht schlecht. Aber es kommt anders:

 

Auf dem Weg zur Werkstatt gibt Mathilda bei jeder Bodenwelle metallische Geräusche von sich, die nichts Gutes ahnen lassen. Der Mechaniker bestätigt schnell unsere Ahnung. Die reparierten Federblätter sind schon wieder gebrochen. Und es kommt noch dicker: was der Meister da in Gondar vor zwei Wochen zusammengeschustert hat, taugt nur noch für's Alteisendepot. Wir irren von Pontius zu Pilatus auf der Suche nach einer Fachwerkstatt, die uns helfen kann, aber alle bestätigen, was bei Mercedes längst jeder weiß: Wir brauchen ein komplett neues Paket. Entweder, das Fahrzeug wird auf beiden Seiten umgerüstet auf klassische Blattfedern (die es hier in Äthiopien gibt) oder aber ein Satz neuer Parabolfedern muss aus Deutschland eingeflogen werden. Die Umrüstung ist ebenso Zeit- und Geldaufwendig wie der Versand neuer Federblätter, und über überdies hätten wir danach eine erheblich eingeschränkte Achsbewegung. Bleibt also die Neubestellung. Acht Tage sind wir inzwischen in der Stadt, bis die Teile aus Europa eintrudeln wird's noch mal etwa zwei Wochen dauern. Suuuper-GAUUUUU!

 

Was macht man zwei Wochen in Addis außer den Tag am Pool vom Hilton zu verdösen und sich abends in der Bar vom Wim' Hollandhouse zu betrinken? Man flüchtet!

 

Wir mieten uns für 10 Tage einen Jeep samt Fahrer. Das Ziel: der Südwesten Äthiopiens rund um das Omo Valley, ein "wenig erforschtes und auch wenig entwickeltes Gebiet. Auf relativ kleinem Raum leben in einer von Savannen und Akazienwäldern geprägten Landschaft etwa 40 verschiedene Volksstämme nach alten Traditionen - eine kulturelle Vielfalt von unglaublicher Dichte!", so lesen wir es vorab. Eilig schnüren wir ein Paket zusammen für die Tour, packen Wäsche, Mückenschutz und Taschenlampen in unsere Rucksäcke und laden die Batterien für die Kameras auf - die werden wir brauchen! Unser Fahrer heißt Anteneh. Ein leicht untersetzter, freundlicher, besonnener Mann, der passabel englisch spricht und nicht nur eine gute Figur hinterm Steuer macht, sondern auch als Guide über hervorragende Qualitäten verfügt. Er kennt diesen "wilden" Teil Äthiopiens wie seine Westentasche und unterhält da unten ein Netzwerk, von dem wir noch kräftig profitieren werden. In einem in die Jahre gekommenen 80er Land Cruiser verlassen wir Addis und ... wir atmen durch.

 

Wir bewegen uns durch tropisches Hochland vorbei an Bananenfeldern, Kaffeeplantagen und Bambuswälder, vorbei an einfachen Dörfern mit ihren Rundhütten, vorbei an Menschen, die uns, da wir nun mit einem heimischen Fahrzeug unterwegs sind, keines Blickes würdigen. Kein Betteln, keine nachgeworfenen Steine, kein "Jujujuju". Und prompt zeigt sich das Land von einer sehr viel liebenswürdigeren Seite. Wir machen es uns auf der breiten Rückbank bequem und verschwenden keinen Gedanken an Straßen- oder Fahrzeugzustand. Auch das ein erfreulicher Gewinn.

 

In der Distrikhauptstadt Arba Minch, 500 Kilometer südlichwestlich der Hauptstadt beziehen wir für zwei Nächte ein mittelmäßiges Hotelzimmer mit einem viel zu schmalen Bett, das von einem staubigen, zerlöcherten Moskitonetz umhüllt ist. Strom und Wasser fallen immer mal wieder aus - das ist in Äthiopien etwa so selbstverständlich wie Sonnenaufgang im Osten oder Stau am Mittleren Ring.

 

Die Lage von Arba Minch ist einmalig. Die Stadt ist auf drei Seiten von hohen Berghängen umgeben. Vor ihren Toren liegt der Eingang zum Nechisar-Nationalpark, zu dem die Hügellandschaft zwischen dem braunen Abaya- und dem klaren Chamo-See sowie Teile der Uferregion und der Seen gehören. Früh morgens brechen wir auf in den Park. Am Gate steigt ein sogenannter Scout mit Kalaschnikow ins Fahrzeug. Er soll uns beschützen in der Wildnis vor rebellierenden Kleinbauern, wilden Tieren oder vor was auch immer. In Wahrheit ist diese Scoutpflicht in fast allen Nationalparks in Äthiopien wohl eher eine erfolgreiche Arbeitsbeschaffungsmaßnahme. Auch recht. Der freundliche Uniformierte kostet nicht viel und ein bewaffneter Bodyguard an unserer Seite steigert auf drollige Weise die eigene Noblesse.

Ein schmaler, holpriger Track windet sich zunächst durch dichten Dschungel und öffnet sich allmählich zur weiten Savanne, die sachte in die Seen versinkt. Der Wildtierbestand in den Schutzgebieten Äthiopiens kann sich nicht messen mit dem in den südlichen Nachbarstaaten. Das gilt auch für den Nechisar-Nationalpark. Wir beobachten Kudus, Oryx, die hübschen Kolumbus-Affen und vor allem Zebras - unsere ersten freilebenden! Löwen sehen wir keine (die soll es aber hier geben, versichert uns der Scout), dafür Tsetse-Fliegen, die Überträger der gefürchteten Schlafkrankheit. Sie fallen im Fahrzeug plötzlich und aus hellheiterem Himmel über uns her und sind ebenso schnell wieder verschwunden. Anteneh wird gestochen und blutet stark. Die Tsetse-Fliege sticht nicht im eigentlichen Sinne. Vielmehr beißt sie mit ihrem Mundwerkzeug ins Fleisch und erzeugt eine schmerzhafte Wunde, aus der sie Blut aufsaugt. Ateneh ist tapfer, unser Scout mit seiner Kalaschnikow hilflos. Am Nachmittag auf einer Bootstour auf dem Chamo-See kriegen wir auch noch Flusspferde und Krokodile vor die Kamera. Insgesamt kein schlechter Auftakt für unsere erste Safari in Afrika.

 

Wir ziehen weiter - mal über nagelneuen Asphalt, mal über schwierige Piste, die während der Regenzeit unpassierbar ist. Die Unbeschwertheit, mit der der alte Land Cruiser durch die Wildnis ackert, ist schon toll. Was mühen wir uns auf solchen Straßen mit Mathilda ab. Wir erinnern uns an frühere Reisen mit unserem eigenen 60er Land Cruiser, und es schleicht sich ein ketzerischer Gedanke in unsere Gehirnwindungen: sind wir womöglich mit dem falschen Fahrzeug unterwegs? Das Land verändert sich, es wird staubiger, schroffer, einsamer. Die tropische Wucherwelt weicht einer kargen Hügelwelt, in der die weit ausladenden Schirme mächtiger Akazien die Szenerie bestimmen. Dann kunstfertig angelegte Terrassen an den Hängen. Wir sind im Land der Konso, ein Bauernvolk, das über seine Stammesgrenzen hinaus berühmt für seinen meisterlichen Ackerbau ist. Im Hauptort der Region suchen wir uns einen heimischen Führer, der mit uns hinaus in ein entlegenes Dorf fährt.

Die Siedlung liegt auf einem Hügel und ist ähnlich wie bei einer Festung von mächtigen Steinwällen umgeben. Durch ein Tor gelangen wir in ein Labyrinth aus engen Gassen. Papaya-, Guave- und Kohlbäume sorgen für angenehme Kühle. Kinder und ältere Frauen umringen uns, die Männer und jungen Frauen des Dorfes sind draußen auf den Feldern oder aber auf dem Markt im nächsten Ort. Jede Familie besitzt ein eigenes eingezäuntes Gelände mit 3-5 Hütten, Kornkammer (Kosa genannt), Kochplatz und Unterstand für die Tiere. In Begleitung einer anschwellenden Kinderschar dürfen wir Blicke in die Privatwelten der Bewohner riskieren. Die Konso, so erzählt uns unser redefreudiger Führer, praktizieren Polygamie, ein Mann hat mehrere Frauen und ein ganze Schar von Kindern. Auf ihren umliegenden Feldern baut das Volk Gemüse, Getreide, Hirse, Kaffee, Baumwolle und Tabak an. Der "König" der Konso lebt mit Familie und Bediensteten auf seinem eigenen kleinen Hügel. Dank der Beziehungen Antenehs haben wir am nächsten Tag die Ehre einer Audienz bei ihm.

 

Früh morgens stehen wir vor dem von grob gehauenen Ästen umzäunten Anwesen des Stammeshäuptlings. Kala (König) Gezahegne läßt auf sich warten. Einige Dorfoberhäupter sind gekommen und erbitten seinen Rat. Ein Streit muss geschlichtet werden. Wir spazieren derweil mit dem kleinen Sohn des Häuptlings durch einen dichten Dschungel hin zu den Gräbern des Vaters und des Großvaters von Gezahegne. Sie sind geschmückt mit geschnitzten Holzfiguren, die an die Könige erinnern. Der Geist des Toten lebt in der hölzernen Skulptur weiter, so der Glauben. Ein phallusartiger Kopfschmuck weist auf die hohen kriegerischen Verdienste der Toten hin.

Schließlich erscheint der "Kala" höchstpersönlich, ohne Begleitung, ohne Kopfschmuck, ohne Königsinsignien, statt dessen mit einem zu engen Kinder-T-Shirt und einer einfach gewebten kurzen Hose: ein erstaunlich junger, ruhiger, bescheidener Mann, der uns in fehlerfreiem Englisch von seinen Aufgaben erzählt. Er ist Ratgeber, oberster Richter und Repräsentant seines Volkes. Als sein Vater noch lebte, verbrachte er einige Jahre in Addis Abeba, studierte dort und arbeitete für die staatliche Eisenbahngesellschaft. Nun haust er wieder in einer Rundhütte zwischen Ziegen und Kühen und man nimmt es ihm ab, wenn er meint, dass er nirgendwo anders leben möchte. Er führt uns durch sein Anwesen und erläutert die Funktion der Mora, einer zweistöckigen Hütte mit offener Grundetage und Schlafboden, die als Gäste- und Versammlungshaus dient. Er zeigt uns die Wohnstätten seiner Familie und die der Bediensteten. 15 Minuten nimmt er sich Zeit für uns, dann wendet er sich wieder der Tagespolitik zu. Wir verabschieden uns von einem weisen Mann, der beide Welten kennt, die unsrige und die seines Bauernvolkes, das in vielen Bereichen noch immer wie vor Jahrhunderten lebt. Und wir ahnen, dass es gute Gründe für ihn gibt, sich am Ende für letztere zu entscheiden.

 

Noch am selben Tag mach wir uns auf nach Turmi, dem Hauptort des Volksstammes der Hamar. Die Fahrt zieht sich dahin. Ateneh bitte mich, auf einem Teil der Strecke das Steuer zu übernehmen. Das tue ich gerne und ...: da sind sie wieder, diese ketzerischen Gedanken! Die Piste verlässt das kühlere Bergland und erreicht in einer breiten Senke eine heiße, flache Savanne. Wir mieten uns am Rand des Ortes in einer komfortablen Lodge ein, essen noch 'ne Kleinigkeit, trinken ein kühles Bier und verkrümeln uns dann erschöpft auf's Zimmer.

Am nächsten Morgen wartet Anteneh bereits auf uns, zusammen mit einem jungen Hamar, der uns durch ein typisches Dorf dieser Ethnie führen soll. Was folgt ist ein unwürdiges Schauspiel: wir erreichen ein kleines, ärmliches Hüttendorf, dessen Bewohner das Fahrzeug bereits umringen, noch ehe es zum Stillstand kommt. Kaum sind wir ausgestiegen, werden wir von allen Seiten bedrängt, Fotos zu machen. Menschen zupfen uns an den Armen, zetern und keifen, stellen sich in Positur und fordern ihre Preise. Die Stimmung ist beinahe aggressiv, die Prozedur würdelos. Doch von vielen Büchern und von den Erzählungen anderer Reisenden wissen wir, dass derartige Besuche häufig so enden. Für viele Volksgruppen in dieser abgelegenen Region sind Touristen die einzige Chance auf ein Paar zusätzlich verdiente Birr. Die "Honorare" für ein Foto sind festgelegt und indiskutabel: 3 Birr (0,15 €) für ein Portrait einer Einzelperson, 4 wenn Mutter und Kind fotografiert werden. An sich haben wir damit wirklich kein Problem, wir finden es sogar fair und nachvollziehbar. Doch wenn sich der Kontakt allein auf dieses Geschäft reduziert, dann hat das ganze etwas von einem Zoobesuch. Wir suchen mit Hilfe unseres überforderten Führers das Gespräch mit einzelnen Bewohnern und scheitern grandios. Es sind fast nur Frauen im Dorf. Sie „färben“ ihr Haar mit Butter, Ocker und Lehm, tragen lange, mit Perlen verzierte Lederröcke und schmücken Arme und Beine mit Armbänder aus Metall. Ihre Rücken sind gezeichnet von Wulstnarben, die sie sich bei Initiationsriten zufügen lassen. Was für Bilder! Ich stecke in einem echten Dilemma. Natürlich will ich fotografieren, aber das mit Anstand und auf der Basis gegenseitigen Respekts. Oder ist das unzeitgemäße, gutmenschliche Lasst-uns-alle-lieb-zueinender-sein-Harmoniesucht? Haben die Hammar womöglich recht mit ihrer Haltung gegenüber Touristen: "Pack die Kamera aus, mach Deine Fotos, zahl dafür und dann düs wieder ab in Deine Capuccino-Welt ...!"?

 

Nach ein paar schnellen Schüssen machen wir uns entnervt aus dem Staub. Auf der Fahrt Richtung Jinka reden wir lange mit Anteneh über dieses frustrierende Erlebnis. Er stellt für uns das Bindeglied zwischen dieser Welt und der unsrigen dar und wir haben den Eindruck, er begreift nicht so recht, was wir da für ein Problem haben. Aber da irren wir uns ...!

 

(Fortsetzung demnächst)

 


Bildergalerie: Unterwegs ins Omo Valley


Bildergalerie: Kaffeezeremonie in einem Arri-Dorf bei Jinka