Der zweite Brief aus Indien

Namaste!

 

Also, der Mensch ist ja doch ein eher einfach gestricktes Wesen: kaum setzt er sich an einen Strand - vor ihm eine blaue Orgie aus Himmel und Meer, über ihm eine schattenspendende Palme, die sich im tropischen Wind wiegt, hinter ihm eine schmucke Hotelbar, auf der ein Double-Gin-Tonic platzt findet - und schon sieht er Indien im Besonderen und die Welt im Allgemeinen in einem völlig anderen Licht. War da was? Ich kann mich nicht erinnern ...!

Wir sind in Goa. Der Süden Indiens ist ja so viel einfacher zu bereisen. Und er ändert unsere Wahrnehmung über diesen außergewöhnlichen Subkontinent.

Zustände, die wir im Norden noch als trostlos eingestuft haben, begreifen wir hier unten eher als idealtypisch. Was ist passiert? Natürlich ist da eine gnädige Tropensonne, die das Land in ein wesentlich schmeichelhafteres Licht taucht. Vielleicht liegt es auch daran, dass die Menschen hier zugänglicher sind. Das allein reicht aber nicht.

 

Der Standpunkt, von dem aus wir die Dinge beurteilen, verschiebt sich im Laufe dieser Reise - im Laufe jeder Reise. Anfangs - frisch aus unserer Wohlstandswelt eingeflogen - stellen wir Zusammenhänge her, die ziemlich bald keinen Bestand mehr haben werden. Hier ein Beispiel: Armut = Elend! Das kann stimmen, tut's aber nicht zwingend! Dass wir dennoch immer wieder auf diesen Irrtum hereinfallen...., als wären wir noch nie unterwegs gewesen.

 

Es beginnt schon mit dem Begriff Armut. Armut ist relativ. Verglichen mit uns mag der Taxifahrer, der uns in seinem alten Ambassador ins nächste Dorf fährt, arm sein. Verglichen mit ihm ist es der Sadhu, an dem wir vorbeifahren, und verglichen mit dem russischen Oligarchen, vor dessen goanischem Feriendomizil der Sadhu steht, sind wir die armen. Wiedermal löst sich die Gleichung, wonach Glück proportional zu Wohlstand ist, in ein laues Lüftchen auf. Unsere materielle Wertewelt fahren wir früher oder später gegen die Wand - ich glaub, allmählich ahnen wir das. Die Menschen hier setzen dieser eine soziale und spirituelle Wertewelt entgegen, um die wir sie beneiden sollten, weil sie im Einklang steht mit der Gemeinschaft und der Schöpfung. Doof nur, dass wir - der Westen - nicht aufhören, alle Welt mit unserer Anschauung zu missionieren. Noch doofer ist, dass wir damit Erfolg haben. Und hier schließt sich der Kreis: der Mensch ist per es eben doch ein einfach gestricktes Wesen ...!

 

Na schön: die Sache ist ein klein wenig komplizierter, aber wir lassen das jetzt mal so stehen ....

 

Goa umschmeichelt uns also mit Sonne, Strand, Palmen und tiefblauem Meer.

Und freundlichen Menschen, die immer ein Lächeln für uns übrig haben - so lange es sich dabei nicht um russische Touristen handelt. Deren soziale Kompetenzen kollidieren schwer mit indischer Konzilianz (und wieder ein Minuspunkt auf meinem Karmakonto ...).

 

Gestern haben wir uns in ein verschlafenes Resort an der Mündung eines kleines Flusses eingemietet. Unser Zimmer ist in einem üppigen Garten Eden eingebettet. Ein kleiner, von Palmen eingerahmter Pool glänzt wie ein Spiegel darin. Der nächste Badestrand ist 10 Kilometer entfernt, weshalb es hier herrlich friedlich zugeht. Wir hängen beide nicht gerne stundenlang am Strand ab - also kein Problem für uns. Lieber hängen wir mit Menschen ab: am gegenüberliegenden Flussufer lugt ein Dorf aus dem tropischen Grün.

 

Heute früh noch vor Sonnenaufgang tönen spirituelle Klänge übers Wasser herüber in unser Zimmer hinein. Wir ziehen schnell ein paar Sachen über und spazieren bei Morgendämmerung über eine alte Steinbrücke ins Dorf. Entlang einer engen Straße reihen sich einfache, eingeschossige Häuser. Keine Fensterscheiben, nackte Zementböden, einige mit Wellblech provisorisch abgedeckt. Vor beinahe jedem Haus ist eine Frau damit beschäftigt, den Boden mit farbigem Pulver kunstvoll zu dekorieren. Heute feiert die Dorfgemeinschaft ein religiöses Fest, dessen Bedeutung wir im komplexen Göttertum der Hindus noch herauszufinden versuchen. Shivaratri ist es nicht, soviel begreifen wir. Dennoch: Der Shivatempel ist feierlich mit Blüten und Lichterketten geschmückt und mit Lautsprecherboxen behangen, als gelte es, damit auch noch das ferne Mumbai zu beschallen.

 

Wir werden von allen Seiten freundlich begrüßt. Frauen tragen farbige Stoffe auf ihren schlanken Leibern, Männer kauen Betel, Kinder nutzen die Gelegenheit, mit uns ihr Englisch zu üben, Hunde laufen geduckt aber schwanzwedelnd hinter uns her. Man plaudert mit uns wie mit alten Freunden.

Wir kriegen eine Einladung zum Mittagessen und wenn wir nicht aufpassen noch eine kleine Tochter von der Dorfgemeinschaft geschenkt. Arm? Diese Menschen sind reich in einem wahrlich ehrenvolleren Sinne.

 

Manchmal kann Reisen wirklich nervig sein, manchmal ist es eine große Herausforderung, manchmal ist es nur toll, manchmal beseelt es. In der Summe werden wir immer belohnt. Immer!!! Wir bewegen uns allmählich Richtung Süden. In Gokarna, einem Pilgerort der Hindus, wollen wir das Shivaratri Fest mitfeiern, in Mysore schnuppern wir noch einmal den Duft indischer Geschichte und unten in Kerala werden wir eine Hausboottour auf den sogenannten Backwaters unternehmen. Und schließlich geht unsere Reise ins Innere. In einer zweiwöchigen Ayurveda-Kur wenden wir uns dem eigenen ganzheitlichen Wohlbefinden zu. Ja, auch wir sind reich - reich beschenkt!

 

In einer asiatischen Weisheit heißt es: "Wer andere erkennt, ist gelehrt.

Wer sich selbst erkennt, ist weise. Wer andere besiegt, hat Muskelkraft. Wer sich selbst besiegt, ist stark. Wer zufrieden ist, ist reich. Wer seine Mitte nicht verliert, ist unüberwindlich."

 

Michel & Sabine