Nordwärts

Die große Schwester der Ruta 40, entlang derer wir hinunter nach Feuerland unterwegs waren, ist die Ruta 3. Sie führt im östlichen Patagonien nahe des Atlantiks Richtung Norden – zwar durch ebenso trockenes Steppenland und dornige Einsamkeit wir die Staubstraße weiter im Westen, doch die Ruta 3 ist durchgehen geteert. Das ist gut so, und zwar aus zwei Gründen: erstens ist uns nach Tausenden von Kilometern über schlaglochgesprenkelten Waschbrettpisten (die noch jede Schraube und jeden Nervenstrang irgendwann kleinkriegen) die Lust darauf gehörig vergangen. Und zweiten können wir endlich wieder Musik während der Fahrt hören: Coldplay hab ich mir in Ushuaia auf meinen iPod ’runtergeladen und (in Erinnerung an unser Cafe in der Calle Maipu) Astor Piazzolla – beides vortreffliche Hörgenüsse während stundenlanger Fahrt durch menschenleere Einöde.

Kaum Verkehr ist auf der Ruta 3. Unser steter Begleiter durch die Weiten Patagoniens ist der stürmische Wind aus Südenwesten. Er läßt Vögel rückwärts fliegen, Steppengräser wogen wie das Meer und Lucy wie ein Schoner darin segeln.

 

Wir schwingen in entspannter Abgeklärtheit. Wir eilen nicht mehr einem vorgegebenen Ziel hinterher, sondern befinden uns quasi in der Auslaufphase unserer Reise. Eine dumpfe, aber durchaus wohlige innere Leere macht sich breit, ähnlich wie nach einer schweren Prüfung, auf die man sich monatelang vorbereitet hat, oder wie nach diesem einen wichtigen Job, der schon seit Wochen für schlaflose Nächte sorgt. Wenn er schließlich geschafft ist bzw. wenn die Prüfung bestanden ist, fällst Du in ein komatöses Loch! Und genau darin machen wir’s uns gerade bequem in diesen Tagen auf der Ruta 3.

 

Schließlich läßt sich sogar die Sonne wieder blicken, die sich in den letzten Wochen ziemlich rar gemacht hat. Sie überrascht uns um die Mittagszeit irgendwo im leeren Raum zwischen Puerto San Julian und ihrer nächstgelegenen Nachbarstadt Caleta Olivia, fast 400 Kilometer weiter nördlich. Wir halten an einer Parkbucht, holen Stühle und Tisch heraus, plazieren sie in die Pampa und genießen unter der Sonne eine ausgiebig Brotzeit: hausangemachter Kräuterkäse nach Sabines Geheimrezept, Salami, Oliven aus dem Glas, dazu frisches Baguette aus der panaderia in Puerto San Julian und ein Gläschen Sauvignon Blanc.

 

Und dann passiert aus hellheiterem Himmel, was nach über 65.000 Kilometern doch irgendwie überfällig war: Lucy springt nicht mehr an!

Der Anlasser dreht zwar, Batterien sind auch okay, doch der Motor will nicht laufen. Kriegt er keinen Treibstoff? Keine Luft? Alle Schläuche sind in Ordnung. Ich überbrücke einen der beiden Dieselfilter – neulich hatte ich Dichtungsprobleme mit ihm – aber das führt zu nichts. Mein Geschraube ist sowieso eher hilfloser Aktionismus von einem, der in Wahrheit kaum Ahnung hat von Kfz-Technik.

Ich lese im Reparaturhandbuch im Kapitel „Fehlersuche“ nach. Da tauchen abenteuerliche Sätze auf in der Art: „ Entfernen Sie mit Abzieher T77F-4220-B1 den Schubflanschabstandhalter (siehe Abschnitt 3.148).  Demontieren Sie hierfür das Antriebsritzel am Treibstoffpumpennocken (benutzen Sie das Montagewerkzeug T83-6316-B)  und stellen Sie die Steuerung bei einer Centanzahl von 47 oder höher auf 1,5°ATDC. Unser Tip: Wenn Sie damit Probleme haben, gehen Sie zu Fuß, Sie Dumpfbacke, Sie.“

 

Ach Lucy: Du hättest Dir wirklich keinen einsameren Ort aussuchen können für Deinen Streik. Zur nächsten Tankstelle sind’s 50 Kilometer, zum nächsten nennenswerten Städtchen 150. Wir schließen alles ab, stellen uns an den Straßenrand und wollen zur Tankstation Tres Cerros trampen. Einige Zeit vergeht bis endlich ein Fahrzeug kommt: es ist ein 30 Tonner Sattelschlepper mit leerem Auflieger. Der Truck rollt neben uns aus, die Fahrertür öffnet sich und heraus steigt Miguel aus dem 350 km entfernten Comodoro Rivadavia: übergewichtig ist er, schnauzbartig und wenn er lächelt, entblößt er eine gewaltige Lücke da, wo andere einen Schneidezahl haben – und er lächelt viel. Er hört sich unserer Geschichte an, beugt sich über Lucy und macht da irgendwelche komischen Sachen. Ich glaube er überprüft gerade den hydromagnetischen Schnellleerlaufpumpennockenflansch, aber ich will’s nicht beschwören.

 

Nach einer Weile gibt auch Miguel auf. Anschieben können wir wegen des Automatikgetriebes abhaken, und so einigen wir uns darauf, daß er uns bis Tres Cerros abschleppt.

 

Minuten später rollen wir als überlanger Troß über die Ruta 3: Miguels 20 Meter Truck, unsere 5 ½ Meter Lucy, dazwischen ein 10 Meter Abschleppseil. Macht zusammen 35 ½ Meter. Wer uns überholen will muß lange Anlauf nehmen.

 

Tres Cerros ist ein schmuckloser Außenposten der Zivilisation: Tankanlage, ein Imbiß, ein paar verstaubte Bretterbuden, Toiletten ohne Brillen - kein Ort zum Stranden. Einen Kfz-Mechaniker gibt es zwar, aber es ist Samstag und der wird erst wieder am Montag auftauchen. Wir richten uns schon darauf ein, das Wochenende hier zu verbringen, als sich Miguel noch einmal über den Motor beugt (bestimmt 5 Argentinier schauen ihm dabei zu. Eine geöffnete Motorhaube hat für einen Argentinier etwa die gleiche Anziehungskraft wie ein geöffnetes Wirtshaus für einen Bayer). Miguel prüft noch mal einige Schläuche, bittet mich dann und wann, den Anlasser zu betätigen … und siehe da, plötzlich springt Lucy wieder an. Was denn los war, will ich von ihm wissen. Er sagt, er habe keine Ahnung und schlürft dabei an seinem Mate (... den er auch uns reicht. Leider muß ich dankend ablehnen. Ich bin kein Mate-Fan, hatte ich das schon mal erwähnt? Außerdem krieg ich leicht Lippenherpes. Sabine ist da tapferer ...).

 

Der Motor läuft, aber unruhig und stotternd. Miguel schlägt vor, Lucy nicht mehr auszuschalten, und ihm statt dessen bis ins 300 Kilometer entfernte Commodoro Rivadavia zu folgen, wo es einen Bosch Dieselspezialisten gibt. Das tun wir auch. Nach Stunden erreichen wir bereits bei Dunkelheit die Stadt, wo wir uns vor der Bosch Werkstatt von unserem freundlichen Helfer verabschieden. Wir wollen ihm 100 Pesos geben, doch er will nichts davon wissen. Eine Flasche Sekt, die wir noch in unserer Vorratskiste haben, nimmt Miguel an, dann braust mit seinem 30 Tonner davon. Nirgendwo ist Dir eine helfende Hand näher als in Südamerika!

Nur einige Kilometer von der Werkstatt entfernt gibt’s einen Campingplatz. Wir fahren dort hin, richten uns ein Plätzchen an einer windgeschützten Stelle ein und fallen nach einem kurzen Abendessen erschöpft in die Koje.

 

Am Montag morgen bringen wir Lucy (sie springt widerwillig an!) in die Werkstatt. Am Nachmittag schnurrt sie wieder wie ein Kätzchen. Tatsächlich hat der Motor nicht richtig Luft bekommen. Ich wußte es ja! Und wenn ich Montagewerkzeug T83-6316-B gehabt hätte, hätte ich’s auch selber richten können … pfff …!

 

So, nun haben wir das Monumento Naturales Bosque Pertificados - versteinerte Wälder - irgendwo zwischen Tres Cerros und Commodoro Rivadavia verpaßt. Fahren wir zurück? Nein! Der Reiseführer beschreibt einen ähnlichen versteinerten Wald nahe Sarmiento, 120 Kilometer westlich von hier; schauen wir uns halt außerplanmäßig diesen an. Und da die Straße dorthin durchgehend geteert ist und sie weiterführt ins argentinische Seeland an die Ostflanke der Anden, werfen wir unsere weitere beabsichtigte Reiseroute ein klein wenig über den Haufen. Wir streichen die Halbinsel Valdez. Das könnte zwar als mittelschwere touristische Sünde durchgehen, aber Schwamm drüber.

Der „Wald“ bei Sarmiento, durch den wir am übernächsten Tag spazieren, entpuppt sich als karge Hügellandschaft, in der verstreut bis zu 65 Mio. Jahre alte versteinerte Baumstämme herumliegen. Der Boden ist bedeckt von Steinholzsplitter, die Erosion und die Verschiebung der Erdoberfläche bringen immer wieder Neues ans Tageslicht, lesen wir im kleinen Infomuseum am Parkeingang. Die Gegend ist bizarr, irgendwie endzeitmäßig. Wenn eines Tages dieser Planet unbewohnbar sein wird - wer weiß, vielleicht sieht er flächendeckend dann so aus, wie hier im zentralen Patagonien.

 

Wir gleiten gemächlich Richtung Nordwesten über anständige Asphaltstraße. Lucy hat ihre Krise überwunden. Der Wind hat merklich nachgelassen, vielleicht liegt’s an den Andengipfel, die sich in der Ferne aufbauen. Es ist wie ein Wiedersehen mit alten Freunden.

Kurz vor dem kleinen Städtchen Esquel überfahren wir die Gleise des „Alten Patagonien-Express’“, dem Paul Theroux Dank seines gleichnamigen Buches zu Berühmtheit verhalf. Einst verband die von einer Dampflok gezogene Schmalspureisenbahn die wichtigsten Estanzias in der Region. Heute verkehrt sie noch immer mehrmals die Woche zwischen Esquel und El Maiten, auf etwa 1/3 der ursprünglichen Strecke. In der Touristeninfo von Esquel erfahren wir, daß am nächsten Morgen der Zug das Städtchen um neun Uhr verlassen wird. Das lassen wir uns nicht entgehen, und so stehen wir anderntags rechtzeitig in der freien Pampa und erwarten „La Trochita“.

Lange bevor wir den Zug sehen, kündigt er sich durch seine Pfeife an, dessen schriller Ton zwischen den Bergwänden hin- und hergeworfen wird. Dann rollt er lärmend und fauchend an uns vorbei, wie - um es mit Theroux’ Worten zu beschreiben - „ein wildgewordener Samowar auf Rädern, mit Eisenflicken auf dem Kessel, leckenden Röhren an der Unterseite, tröpfelnden Ventilen und eisernen Krümmern, die Dampffontänen zur Seite schleudern.“

 

Wir sind im Seenland Argentiniens und von nun ab machen wir Urlaub: wir besorgen uns gleich in Esquel eine einmonatige Angellizenz für stolze 80 Euro, füllen unsere Lebensmittelreserven auf und fahren in den Nationalpark Los Alceres, 60 Kilometer westlich von Esquel. Er erstreckt sich entlang der chilenischen Grenze und in ihm, so steht es im Reiseführer, soll es „zahlreiche fischreiche Seen“ geben.

 

Am Lago Rivadavia finden wir einen herrlichen Stellplatz am Wasser zwischen alten Zypressen. Wir richten uns für einige Tage ein. Die Sonne scheint, die Temperaturen könnte man mit ein bißchen Wohlwollen als mild bezeichnen, der Wind ist mäßig, das Wasser leuchtet tiefblau und tatsächlich springen aus ihm immer wieder Fische heraus. Und so stehe ich die nächsten Stunden und Tage am Ufer, werfe die Leine aus, hole sie wieder ein, werfe sie wieder aus …, und kein einziger Fisch beist an. Satt dessen, ich schwöre es, grinsen die blöden Viecher, wenn sie vor meinen Augen aus dem Wasser hopsen. Und bald lächelt auch Sabine nur noch mitleidig. Daß sie überhaupt zu mir hält, ist schon erstaunlich. Ich meine … hallo …: Kann nicht fischen, kann keine Autos reparieren, wozu soll „Mann“ eigentlich gut sein (... außer  als  love-machine ...)? Und noch etwas läßt mich im Stillen grummeln: wieso nur beschleicht mich das unbestimmte Gefühl, daß unter all den Touristen, die da – Gott sei Dank ebenso erfolglos wie ich - die Leine ins Wasser werfen, ich der einzige bin, der sich pflichtschuldigst für teures Geld eine Lizenz besorgt hat …?

Seit zwei Wochen „angeln“ wir uns nun also von See zu See. Wir durchqueren nette Ortschaften und Städtchen, die „Urlauber“ wie uns verwöhnen mit Eiscafes, Outdoor-Modeboutiquen und Schokoladenmanufakturen. Sie heißen El Bolson, Los Arrayanes oder San Martin de los Andes, und ihre Ortsbilder dominiert eine fast uniformierte, aber durchaus pittoreske alpine Blockhausarchitektur. Die Hauptstadt des Seenlandes, Bariloche, lassen wir schnell links liegen. Zu viele Menschen, zu viel Verkehr, zu viele Hotels. Statt dessen finden wir immer neue einsame Flecken an kristallklaren Seen, die eingeschnürt sind von bewaldeten Bergen mit schneebedeckten Gipfeln und die wir, so scheint es, ganz für uns alleine haben. Wir erleben unspektakuläre, stille Momente. Tagsüber gehen wir spazieren und sammeln Vogelfedern, oder wir lesen, oder wir probieren mit dem wenigen, was die Reservekiste hergibt, neue Rezepte aus. An kühlen Abenden starren wir lange in den südlichen Sternenhimmel auf der Suche nach dem Kreuz des Südens. Bald müssen wir in Buenos Aires sein und dann beginnt die lästige Verschiffungsprozedur für Lucy zurück nach Deutschland. Wozu also in der letzten Phase on the road Streß aufkommen lassen?

 

Ach, und was das Fischen betrifft: ich habe es keineswegs aufgegeben. Ich weiß genau, irgendwo da draußen wartet eine wunderbare Regenbogenforelle auf mich. Ich höre sie nachts verführerisch in mein Ohr flüstern und in unruhigen Träumen sehe ich sie irisierend vor mir. Und wenn der Augenblick der Begegnung gekommen ist … bin ich es, der grinst!