Kenia I

Das Grauen ist eine Straße. Sie liegt im Norden Kenias und verbindet auf 250 Kilometern das Grenzstädtchen Moyale mit einem Kaff namens Marsabit. Das Grauen trägt einen Namen: Great North Highway. Hört sich recht vielversprechend an. Doch um es gleich vorwegzunehmen: der Name ist die größte Verarsche seit der Einnahme Trojas durch ein hölzernes Pferd! Wer denkt sich so eine Gemeinheit aus? Feiste Herren des kenianischen Verkehrsministeriums, die ihr Volk verhöhnen und sich darüber täglich eins ins Fäustchen lachen? Der Volksmund nennt die Straße "Highway through Hell". Und das Volk hat Recht!

Die Einreise nach Kenia verläuft geschmeidig und freundlich. Morgens um halb neun stehen wir an der Grenze, um neun sind wir durch. Auf beiden Seiten der Schranke heißt die Grenzstadt Moyale. Wir verlassen auf äthiopischer Seite ein ziemlich schmuddeliges, wuseliges Schmugglernest. Und finden uns auf kenianischer Seite in einem staubigen Dreckloch wieder. Wir steuern geradewegs Richtung Süden. Raus aus dem Kaff, hinein in eine bezaubernde, hügelige Savanne. Die Piste ... oops, tschuldigung ... der Great North Highway verlässt eilig das Hochland und windet sich hinab auf merklich wärmere 500 Höhenmeter. Die Fahrbahn ist staubig und "wellblechig", die Spuren sind tief ausgefahren, aber problemlos zu nehmen. Mathilda bewegt sich gutgelaunt und souverän durchs weite Land. Sie gibt sich alle Mühe, uns zu gefallen. Die Ereignisse in Addis Abeba haben eine schwere Delle ins Blechkleid unseres Vertrauens in sie hinterlassen. Sie arbeitet eifrig daran, das wieder glattzubügeln. Wir fliegen über das Wellblech, bewegen uns im dritten Gang* vorwärts. Es wird für lange Zeit das letzte Mal sein.

Wir erreichen ein bizarres, farbloses Plateau. Ein düsteres, fast menschenleeres Land, das einen ebenso düsteren Namen trägt: Dida Galgalu, Ebene der Dunkelheit: Dorniger, blattloser Busch bedeckt anfangs einen grauen Boden. Die Hitze lässt den Horizont schon jetzt, weit vor der Mittagszeit, gleißen. Die Schotterstraße verschlechtert sich auf jeden Meter. Das "Wellblech" wird so heftig, dass wir die Geschwindigkeit drastisch reduzieren müssen. Manchmal überholt uns ein Kleinlastwagen in absurdem Tempo. Die Fahrer scheinen sich über alle Gesetze der Physik hinwegsetzen zu können. Aber was für ein Risiko gehen sie dabei ein. Es gibt zwei Möglichkeiten, eine Wellblechpiste zu bezwingen: Du beschleunigst so weit, dass die Räder von Wellblechkamm zu Wellblechkamm hüpfen. Das Fahrzeug wird weniger durchgeschüttelt, aber die Traktion reduziert sich erheblich. Du steuerst wie auf Eis. Auf unserem Abschnitt liegen die Kämme einen halben Meter und mehr auseinander. Du musst also richtig Gas geben und hast kaum Chancen, schnell genug zu reagieren, wenn sich Dir irgendetwas in den Weg stellt - ein kratertiefes Loch z.B., ein mächtiger Gesteinsbrocken oder ein Kamel. Die zweite Möglichkeit: Du reduzierst die Geschwindigkeit so weit, dass die Räder Zeit haben, über jeden Wellblechkamm in jede Wellblechrinne zu rollen. Das ist zwar materialschonend und erhöht die durchschnittliche Lebenserwartung der Kamele hier, aber es ist zeitaufwändig. Eine echte Geduldsprobe und eine Folter für autobahnverwöhnte Mitteleuropäer. Dazwischen geht garnix. Bei "normaler" Geschwindigkeit wird das Fahrzeug dermaßen durchgerüttelt, dass Du eher früher als später den ADAC rufen musst. Und weil wir in der "Ebene der Dunkelheit" keine Notrufsäulen finden und ich zu eher vorsichtiger Fahrweise neige, quälen wir uns also mit der Durchschnittsgeschwindigkeit eines untrainierten Joggers durch eine endlose Dida Galgalu.

 

Dennoch gibt's Probleme. Bei jeder Pinkelpause drehen wir eine schnelle Inspektionsrunde um das Fahrzeug. Beim ersten Stopp entdecken wir einen abgerissenen Haltegurt am Batteriekasten. Beim zweiten einen gelösten Spannriemen an den Ersatzreifen. Beim dritten Stopp finden wir einen der Zusatzscheinwerfer abgebrochen am Dachgepäckträger baumeln. Nur noch die Kabel bewahren ihn vor dem endgültigen Absturz. Alles Kleinkram, schnell geflickt. Aber was kommt noch alles?

Die Sicherheitslage hier im Norden Kenias ist ein heiß diskutiertes Thema unter Overlandern. Bis vor einiger Zeit durfte man nur im Konvoi über den Great North Highway unterwegs sein. Es wird von Überfällen auf Fahrzeuge berichtet und von bewaffnete Konflikten zwischen verschiedenen Volksgruppen. Die Konvoipflicht ist zwar aufgehoben, aber vor Nachtfahrten wird immer noch gewarnt.

 

Gegen vier Uhr nachmittags erreichen wir Turbi, ein fliegenumschwärmtes Kaff mitten in der Einöde. Einige wenige armselige Hütten liegen lieblos verstreut im sandigen Boden. Davor sitzen gelangweilte Bewohner. Die meisten kauen wahrscheinlich Miraa, bittere Blätter, die bei geringer Dosis eine leicht stimulierender Wirkung haben. Wer es allerdings damit übertreibt, kämpft mit Halluzinationen, Aggressionen und Alpträumen. Nach sieben Stunden hinterm Steuer haben wir gerade mal 110 Kilometer geschafft. Es reicht für heute. Wir passieren einen Kontrollposten. Ein junger Polizist fragt teilnahmslos nach dem woher und wohin. Wir erkundigen uns nach einem Stellplatz für die Nacht und landen auf dem vermüllten Hof eines "Hotels". Zwei Hütten gibt's hier: die fordere dient als Dorfkneipe, wo's gerade handgreiflich wird. Unser Polizist eilt hin und versucht den Streit zu schlichten. Die hintere Hütte ist das "Zimmer" für etwaige Gäste. Dazwischen wir mit Mathilda und einigen meckernden Ziegen. Nur eine ist still. Sie hängt enthäutet von einem Balken herunter. Kaum haben wir den Motor ausgemacht, beginnt eine kleine "Reise nach Jerusalem": fast alle Kneipengäste nehmen ihre Plastikstühle und platzieren sich vor Mathilda. Bier fließt, es wird palavert und deutsche Touristen werden angestarrt. Endlich mal ein unterhaltsames Spätnachmittagsprogramm in Turbi. Heute vermisst keiner den Fernseher. Nur die Protagonisten spielen nicht mit. Nach einer halben Stunde starten wir den Motor und verdrücken uns.

 

Wegen der Gefahrenlage wollten wir eigentlich nicht in der Wildnis übernachten. Aber zwischen angetrunkenen, miraakauenden Kneipengästen fühlen wir uns auch nicht wirklich sicher. Wir fahren weiter Richtung Süden über eine steinige Piste, die nun ungleich schwieriger ist. Wir bewegen uns in einem vegetationslosen Lavafeld. Das beiseite geräumte Gestein entlang der Straße bildet eine unüberwindliche Barriere. Wir kommen nicht runter von der Piste und die Sonne nähert sich dem Horizont. Schließlich hieven wir selber Steinbrocken zur Seite und schaffen eine Durchfahrt in die Ebene. Wir parken so weit von der Fahrbahn entfernt, dass wir außerhalb der Scheinwerferkegel etwaiger vorbeifahrender Fahrzeuge sind. Da sitzen wir dann nach Sonnenuntergang in unserer Kabine und schauen misstrauisch hinaus in diese düstere Welt. Ein fahles Mondlicht erleuchtet eine monotone, sonnenverbrannte Einöde. Der perfekte Schauplatz für einen Gruselfilm, in dem Monstermotten über Touristen herfallen, Kannibalenstämme die Gegend unsicher machen und Untote aus der Erde steigen. Wir essen eine Kleinigkeit und löschen eilig die Lichter, wenn wir in der Ferne den Motor eines sich nähernden Fahrzeugs hören. Um neun liegen wir in der Koje. Wir lauschen dem großen Nichts um uns herum und ... fallen schließlich und unerwartet in einen tiefen Schlaf.

Dämmerung und kein Gezwitscher. Vögel meiden diesen Ort (außer einen, und der war gekommen, um uns durch die Nacht zu begleiten - aber das ist eine andere Geschichte ...). Kurz nach Sonnenaufgang sind wir wieder auf Piste. Der Polizist von Turbi gestern meinte, die Straße wird von nun an besser. Wieder so ein Fall von bitterbösem, kenianischem Humor. Sie wird schlimmer. Wir haben auf unseren Reisen schon zahlreiche schwierige Passagen hinter uns gebracht. Wir sind über matschige, abenteuerliche Erdstraße von den Höhen der Anden hinunter ins Amazonas Tieflandbecken gerutscht. Wir haben über die legendäre Old Telegraph Road in Australien die Nordspitze der Halbinsel Cape York bezwungen, haben dabei krokodilverseuchte Flüsse durchfahren und an guten Tagen nach 10 Stunden Fahrt satte 80 Kilometer geschafft. Wir haben die endlose Tanami-Wüste durchquert, in der es über 1000 Kilometer keine einzige Wasser- oder Spritversorgung gibt. Mittendrin streikte damals unser betagter Landrover. Aber nichts, wirklich nichts lässt sich vergleichen mit dem Horrortrip, den wir hier gerade durchmachen. Die Piste ist ein verschlungenes Bündel von Spuren, die schier endlos nach Süden durch die trostloseste Landschaft ziehen, die sich ein Schöpfer ausdenken konnte. Auf grauem, staubigem Boden liegen schwarze Lavabrocken verstreut. Egal, in welche Richtung wir schauen, es ist immer das gleiche Bild von düsterer Monotonie und ewiger Einsamkeit. Wir mühen uns Kilometer um Kilometer über Geröll, durch tiefe Krater und ausgefahrene Furchen, dann wieder über brutales Wellblech. Die furchtbare Straße, der heiße Wüstenwind, die erbarmungslose Sonne und das öde Land haben sich zu einem grausamen Konglomerat vereinigt. Sie lassen unsere Sehschärfe mindern und bringen unsere Hirne zum Kochen. Wir bewegen uns wie auf einem anderen Planeten, und genau so weit fühlen wir uns auch entfernt von allem, was uns vertraut ist, was uns lieb ist, worauf wir nie, nie wieder verzichten wollen: 6-spurige Autobahnen z.B. mit freundlichen Rasthöfen alle 50 Kilometer, wo es knackige Salatbars gibt, und wo in picksauberen Sanifair-Toiletten eine Endlosschleife mit Vogelgezwitscher das Pullern übertönt.

Stunde um Stunde mühen wir uns voran. Mathilda wird extremst gefordert. Sie schaukelt und windet sich, sie wird durchgeschüttelt und heissgekocht, aber sie hält tapfer dagegen. Wie kann eine Maschine derartige Beanspruchungen durchhalten. Die Aufhängungen beider Ersatzreifen brechen. Lediglich das Motorrad hält die schweren Räder. Wir fixieren sie notdürftig mit einem zusätzlichen Gurt. Um die Mittagszeit erreichen wir ein Dorf, dass in keiner Karte verzeichnet ist. Dunkle Menschen schauen uns müde nach, doch als ich aussteige um ein Foto von einer Hütte mache, auf der mit großen Lettern "Hotel" geschrieben steht, kommt Bewegung auf. Da eilt ein wilder Mob auf mich zu und verlangt lauthals Geld fürs Fotografieren. Zu viel Miraa gekaut, was? Eh mich die tobende Meute erreicht, steige ich schnell hinauf in die Fahrerkabine, brülle eine paar Flüche hinab und sehe zu, das ich das Weite suche. Schwachköpfe!

Die Piste rächt sich für meinen Rappel. Sie wird auf den nächsten 20 Kilometern schlimmer denn je. Das sind keine Gesteinsbrocken mehr, über die wir uns mühen, das sind Felsblöcke. Das ist kein Wellblech mehr, das sind Gebirgslandschaften. Wir sind verzweifelt. Unsere Nerven liegen blank. Spannungen kochen zwischen uns hoch: Sabine wird ungeduldig. Sie glaubt, ich könne ruhig etwas schneller fahren. Ich trau mich nicht, hab Schiss vor Reifenpannen, Blattfederbrüchen, Motor- und Getriebeschäden. Dann überholen uns nach langer Zeit mal wieder Kleinlaster in Kamikazetempo, gleich vier an der Zahl und auf den Ladeflächen halten sich Dutzende von Passagieren. Sabine schaut ihnen sehnsuchtsvoll nach und murmelt unverständlich in sich hinein. "Fahr Du", blär ich sie an, "oder spar die Deine Ratschläge!" Zwei der vier Kleinlaster überholen wir im Laufe der nächsten zehn Minuten. Beide liegen mit irgendwelchen Schäden am Straßenrand fest! Aber wo wir schon dabei sind: wer kam eigentlich auf die bescheuerte Idee, durch diesen Kontinent zu fahren ...???

Schließlich verändert sich die Landschaft, die Straße steigt an, die ersten Sträucher wachsen wieder aus dem Boden. Auf einigen längeren Abschnitten kann ich mal wieder in den zweiten Gang hochschalten. Einzelne Hütten tauchen auf, ein Mopedfahrer kommt uns entgegen ... die Menschheit hat uns wieder. Völlig entkräftet holpern wir nach 10 Stunden Fahrt ins wenig attraktive, staubige Städtchen Marsabit. Wir glauben uns im Paradies. Kaum mehr als 100 Kilometer haben wir geschafft. Das GPS führt uns zu Henry's Place, ein kleines Camp am Rande der Stadt mit Dusche und Sitzklo. Wir passieren ein Gate, zwirbeln um ein paar knorrige Bäume herum, parken Mathilda unter dem höchsten von ihnen, machen den Motor aus und ... atmen tiiieeeef durch. Es ist geschafft. Die schwierigste Passage unserer Reise von München nach Kapstadt ist bezwungen. Niemand kann ahnen, welche Erleichterung sich in diesem Moment breitmacht. Im Kühlschrank der Campers Kitchen finden wir kühles Bier, und ich kann mich nicht erinnern, den ersten Schluck aus der Flasche jemals so genossen zu haben. Mathilda sieht übel zugerichtet aus. Die Abdeckplanen von Motorrad und Ersatzräder hängen zerrissen 'runter, alle vier Reifen sind in einem beklagenswerten Zustand. Ganze Gummiteile an den Flanken sind weggerissen. Ein Scheinwerfer fehlt, die Beifahrertür öffnet nicht mehr richtig. Aber unser altes Mädchen hat sich mehr als wacker geschlagen, alle wesentlichen Teile sind heile geblieben. Kein Motor- oder Getriebeschaden, kein Federblattbruch, nicht einmal einen Plattfuß haben wir zu beklagen.

Kenia belohnt uns mit einem farbenprächtigen Sonnen-untergang. Wir stehen auf roter, dorniger, afrikanischer Savanne. Ein Hirte führt seine Rinder zum Nachtplatz. Wir werfen uns ein Lächeln zu und grüßen uns mit einem "Jambo". Ein alter Landrover tuckert vorbei. Eine Frau singt in der Ferne ein heiteres Lied. Vögel zwitschern wieder zwischen den Bäumen und in der Nacht lauschen wir dem Gekeife von Hyänen. Es ist ein schönes Land um uns herum. Ich glaube, wir werden Kenia lieben. Jetzt müssen wir uns nur noch an den eigenwilligen Humor der Menschen hier gewöhnen ... .

 

 

Nachtrag:

Den nächsten Tag verbringen wir in Henrys Camp, wollen die Schäden reparieren und regenerieren. Am späten Vormittag fängt es heftig an zu regnen und es hört den ganzen Tag nicht mehr auf. Völlig unüblich zu dieser Jahreszeit. Seit Monaten hat es nicht mehr geregnet, erst Ende März sollten wieder ein paar Tropfen fallen. Die Erklärung für dieses Wetterphänomen liefert Henry persönlich: ein Wirbelsturm über Madagskar hat seine Ausläufer hier her in den Norden Kenias geschickt. Er erzählt uns auch, dass es unten im Tiefland noch heftiger schüttet und das es heute kein Fahrzeug von Moyale nach Marsabit geschafft hat. Die Piste ist unpassierbar. Diejenigen, welche mitten drin in der Dida Galgalu sind, stecken fest und kommen nicht heraus. Das hätten wir sein können, wenn wir, wie eigentlich geplant, noch eine Nacht länger im Wim's Holland House in Addis geblieben wären. Welche Kräfte haben uns vorzeitig abreisen lassen? Welchem Schutzengel müssen wir diesmal danken ...?

 


* In Wahrheit ist es der vierte Gang. Allerdings wird in einem Lastwagen in der Regel im zweiten Gang angefahren, den ich hier zum einfacheren Verständnis ersten Gang nennen werde. Alles klar?


Highway through Hell
Highway through Hell