Okay: Ich versuch jetzt mal, meine Schreibblockade zu überwinden und ein paar Sätze für diesen Block zu formulieren. Seit wir unsere Afrikareise wieder aufgenommen haben, überfällt uns eine schwere Trägheit, die mich mehr Zeit in der Hängematte verbringen lässt als hinter der Kamera, dem Lenkrad oder dem Computer. Das mag mit der selbst für Einheimische abnormen Hitze zu tun haben, die sich wie eine elektrische Heizdecke über Namibia gelegt hat, es mag aber auch daran liegen, dass wir unser Entschleunigungsprogramm nach unserer Rückkehr in Afrika ein klein wenig übertrieben haben. Ganz bestimmt hat es etwas mit unseren geänderten Reiseplänen zu tun. Das muss ich kurz erklären:
Für alle, die sich erst jetzt zugeschaltet haben: in zwei Etappen haben wir seit September 2010 Afrika von Nord nach Süd durchquert. Die erste Etappe führte uns über den Nahen Osten nach Ägypten, weiter über Sudan und Äthiopien bis Kenia. 7 Monate hat das gedauert, dann sind wir von Nairobi aus für 3 Monate nach Hause geflogen. In der zweiten Etappe durchquerten wir alle ostafrikanischen Länder, um schließlich über Malawi, Sambia, Botswana und Namibia im Anfang 2012 das Kap der Guten Hoffnung in Südafrika zu erreichten.
Die dritte Etappe nun, die wir vor drei Wochen begonnen haben, sah eigentlich vor, über Zentral- und Westafrika zurück nach Europa zu reisen. Wir haben die zurückliegenden Monate in München genutzt, um die Details dieser Reise gut vorzubereiten, Informationen aus allen möglichen Quellen einzuholen, Visaanträge auszufüllen, Hotelzimmer zu buchen (ohne die es z.B. in der Dem. Rep. Kongo überhaupt kein Visum gibt) und natürlich Reisewarnungen durchzustudieren. Die häuften sich mit jedem Tag, der uns näher an den Abreisetermin rückte. Im Augenblick sieht die Lage entlang unserer ursprünglich geplanten Strecke so aus: Angola erschwert bzw. verweigert die Einreise über Land, in der Demokratischen Republik Kongo breiten sich die bürgerkriegsähnlichen Konflikte im Osten aus. In Nigeria gehen Muslime und Christen mit Macheten aufeinander los. Mali zerfällt in Chaos und Mauretanien ist zur Spielwiese entführungsfreudiger Extremisten geworden. Nach unseren vielen bisherigen Reisen wissen wir, dass die Darstellungen von außen über ein Land immer viel dramatischer sind, als es die Realität am Ende zeigt. Doch diese Katastrophenliste war uns dann doch zu lang. Irgendwann entschlossen wir uns, den Plan aufzugeben. In jüngeren Jahren hätten wir das Unternehmen wahrscheinlich tapfer durchgezogen. Doch wir sind bequemer geworden – vielleicht ja auch ein bisschen weiser, auf jeden Fall aber vorsichtiger.
Also sehen unsere Pläne für die kommenden vier Monate in Afrika nun so aus: Wir erkunden unsere letzten weißen Flächen in Namibia, durchqueren Südafrika noch einmal Richtung Osten, reisen vielleicht nach Simbabwe ein, verbringen auf jeden Fall einige Wochen in Mozambique und schließlich geht’s zurück ans Kap. Anfang Februar 2013 wollen wir Mathilda zurückverschiffen nach Deutschland. „Piece of cake“ meint zurecht unser südafrikanischer Nachbar Steve auf dem Campingplatz, wo wir gerade stehen. Soll heißen: die Reise ist so etwas wie ein Spaziergang im Stadtpark, weshalb wir – und hier schließt sich der Kreis – uns den Luxus erlauben, ganz gemächlich durchzustarten.
Fünf Kilometer vom Flughafen in Windhoek entfernt liegt inmitten einer allerliebsten afrikanischen Szenerie die im deutschem Besitz befindliche Farm Ondekaremba. Dort stand Mathilda das vergangene halbe Jahr wohlbehütet in einer Halle. Als ich mich noch am Nachmittag unserer Ankunft hinter das Lenkrad setze, den Zündschlüssel drehe, ein kurzes Stoßgebet gen Himmel schicke und schließlich den Diesel starte, springt unser altes Mädchen an, als könnte sie es gar nicht erwarten, wieder auf die staubigen Pisten dieses Kontinents bewegt zu werden. Kein Murren, kein Stottern, kein Zicken, vielleicht ein bisschen viel Qualm für den Anfang, das ist dann aber auch der einzige Anhaltspunkt, der verrät, dass das Fahrzeug monatelang im Winterschlaf verharrte. Drei Tage lang belegen wir ein zauberhaftes, schattiges Plätzchen auf der Farm, um diverse Arbeiten an der Kabine vorzunehmen, um darin sauberzumachen und um unser Leben in ihr wieder einzurichten. Zu letzterem hätte es keine drei Tage gebraucht. Drei Minuten hätten völlig gereicht.
In Windhoek bringen wir Mathilda zur hiesigen Mercedes-Benz Werkstatt, wo wir ihr ein angemessenes Verwöhnprogramm gönnen. Wir machen Großeinkauf im deutschesten aller afrikanischen Supermärkte, der sich hinter keinem Tengelmann in München verstecken muss: in unserem Einkaufswagen stapeln sich Tüten mit Vollkornroggenmehl und Haribo Gummibärchen, Tuben mit bayerischem süßem Senf, Biomüsli, Barilla Spaghetti Nr. 5 und original italienischer Parmesankäse. Nicht nur das Warenangebot ist ziemlich unafrikanisch, auch das hektische, gereizte Treiben in den Gängen der Konsumhalle. Deutsche Sprache allenthalben, ein deutsches Gedränge, als wäre es Heilig Abend kurz vor Ladenschluss, deutsche Ungeduld, als müsse jeder noch einen Zug erreichen. Die (schwarze) Kassiererin reagiert auf diese Überdosis (weißer) Großherrenart mit hochmütiger Nichtbeachtung ihrer Kunden. Man kann sie ja verstehen (und hätte sich trotzdem für ein kurzes Lächeln gefreut). Im griechisch-italienischen Sushi-Restaurant namens Balalaika essen wir noch zu Mittag. Hier gibt sich Windhoek rührend international. Darüber hinaus bleibt die Hauptstadt Namibias ein angenehmes, überschaubares, provinzielles Kaff.
Und dann endlich rollen wir. Sind wieder unterwegs. Führen ein Leben als Vagabunden. Lassen bei geöffneten Scheiben heißen Fahrtwind an uns vorüberwehen. Ziehen an sonnenverglühten, dornigen Landschaften vorbei. Passieren staubige Ortschaften, die Namen tragen wie Okahandja, Okakarara, Otavi oder Otjiwarongo (kann es sein, das der Namibier eine latente Affinität zum „O“ pflegt?). Wir campen an ausgetrockneten Flusstälern. Sitzen abends am Lagerfeuer, auf dem wir zuvor unser Essen zubereitet haben. Hören Nachts die Grillen in schmerzlichen Frequenzen surren und lauschen frühmorgens dem schrillen Gesang von merkwürdigen Vögeln, deren gebogener Schnabel nicht viel kürzer ist als der Rest ihres Körpers. Und in null-komma-nix stellt er sich wieder ein, dieser dem Reisen typische Eigenrhythmus, der getaktet ist von Sonnenauf- und Untergang, von der nächsten Kurve im glühenden Asphalt und vom kontemplativen Brummen unseres alten Diesels.
„Etosha“! Ein verheißungsvoller geographischer Name. Er klingt nach Wildnis und Abenteuer und nach extremer Natur. Die Einheimischen fanden poetische Umschreibungen für dieses trockene Urland, das heute als Nationalpark geschützt ist: „Ort der Trugbilder“, „Land des trockenen Wassers“ oder „Großer weißer Platz“. Das Leben in Etosha ist bestimmt von langen Phasen der Trockenheit und kurzen, heftigen Regenzeiten. Herzstück des Nationalparks ist die etwa 5000 qkm große Etosha-Pan, eine zur Kalahari gehörende Salztonpfanne. Den Legenden der San zufolge, die vor ihrer Erklärung zum Naturschutzgebiet hier lebten, bildete sich die Salzpfanne aus den Tränen einer Frau, die um ihr ermordetes Kind weinte.
In diesen Tagen im Oktober endet eine lange, in ihrem Finale ungewöhnlich heiße Trockenzeit. Staubwirbel steigen vom Wüstenboden auf, die Luft flimmert wie das Bild eines alten Röhrenfernsehers. Jeden Nachmittag bauen sich dunkle Wolken auf, doch die wollen sich nicht abregnen und haben sich zum Abend hin wieder verzogen. Es ist ein fieses Spiel, dass sich das Klima da erlaubt, und es ist gleichzeitig die beste Zeit, um Etosha zu besuchen. Nur noch wenige Wasserlöcher finden sich auf einem Gebiet, das so groß ist wie die Schweiz. Hier trifft sich an kühlen Morgen und bei Sonnenuntergang eine dürstende Tierwelt. Über vier Tage hinweg steuern wir ein Wasserloch nach dem anderen an. Und immer spielt sich das gleiche Stelldichein vor unseren Augen ab: Jede einzelne Gattung hat seine Position im Tierreich. An der Spitze dieser Hierarchie steht der Löwe. Selbstgefällig und unbekümmert, ganz so wie einer, der sich seiner Vormachtstellung bewusst ist, trottet er dahin und ignoriert – solange er nicht hungrig ist – mit Verachtung das Geschehen um sich herum. Auch unseren Kameraobjektiven würdigt er keines Blickes. Theoretisch stünden wir durchaus auf seinem Speiseplan, das aufgeheizte Fahrzeug, in dem wir stecken, aber nicht. Eine Bedrohung sieht er darin freilich auch nicht. Und so schleicht er keinen Meter an Mathilda vorbei und hält es wie die Kassiererin in Windhoek: er agiert mit hochmütiger Nichtbeachtung.
Rücken Elefanten ans Wasserloch heran, spurten sie auf den letzten Meter los, als befürchteten sie, dass der Tümpel sich plötzlich in nichts auflösen könnte. Andere Tierarten machen respektvoll Platz für die Dickhäuter, und flugs beginnt ein Geplansche wie im Kinderbecken des städtischen Freibads.
Dann sind die Giraffen an der Reihe. Sie nähern sich mit erstaunlicher Vorsicht dem Wasserloch – gerne in der Gesellschaft von Zebras, wie wir beobachten können. Vielleicht ergänzen sich die Tiere in ihrer Wahrnehmung vor möglichen Gefahren: Giraffen haben baubedingt einen größeren Überblick, Zebras hören vielleicht besser – nur eine Vermutung. Tatsache aber ist: Den größeren Überblick bezahlt die Giraffe mit ziemlich aufwändiger Sauftechnik. Beugt sie ihren Kopf zum Trinken über das Wasserloch, senkt sie ihn locker um bis zu zwei Meter unter ihr Herz. Wäre die Giraffe keine Giraffe, würde sie bei dieser Aktion entweder an einer Hirnblutung sterben, oder, wenn das Blut beim Aufrichten zurückfließt, sofort ohnmächtig werden. Um das zu verhindern, hat sie die Natur mit einem besonderen Herz-Kreislauf-System ausgestattet: Spezielle Blutgefäße, die wie Ventile funktionieren, sorgen für eine konstante Blutversorgung des Gehirns. In den Halsvenen sitzen zusätzliche Gefäßklappen, die einen zu schnellen Blutfluss verhindern. Länger als rund zwei Minuten hält es die Giraffe trotzdem nicht in ihrer Saufstellung aus.
Wenn sich ein Spitzmaulnashorn dem Wasserloch nähert, halten es die meisten anderen Tiere mal wieder für angebracht, sich zurückzuziehen. Ewig diese Störungen beim Trinken. Der Bestand an Nashörnern in Etosha gilt mit 300 Exemplaren als gesichert. Schakale wieseln ständig durch die Gegend. Keine Pfütze, an der wir sie nicht beobachten können. Die vorsichtigsten und scheusten aller Tiere sind die Impalas, und sie rufen damit unser Mitgefühl hervor. Zögerlich und ängstlich tasten sich die bedauernswerten, großäugigen und zierlichen Geschöpfe Meter um Meter an das erlösende Nass heran, immer schreckhaft, immer in Sprungbereitschaft, immer die Gefahr in Nacken, Opfer zu sein von einem Löwen, einem Leoparden, einem Geparden oder einer Hyäne. Impalas sind die lebendigen Big Mac‘s in der afrikanischen Wildnis. Hat jemand schon einmal wissenschaftlich untersucht, wie viel Prozent dieser Tiere bei diesem fortwährenden Stress an Herzinfarkt sterben? Nach ‚Gefressen-werden‘ sicherlich die zweithäufigste Todesursache.
Wir beobachten Kudus und Oryx-Antilopen in Etosha, Springböcke, Gnus und einmal sogar den seltenen Honey-Badger, von dem wir erst nachschlagen müssen, wie er auf Deutsch heißt (Honigdachs, na klar!). Nirgendwo in Namibia haben wir eine solche Fülle und Vielfalt an Wildtieren erlebt. Tagsüber zählen wir wenige Touristen. Sie verteilen sich wohltuend in dem weiträumigen Areal. Anders sieht es in den Nächten aus: Die verbringen wir auf einem der drei staubigen, schattenlosen Campingplätzen, und die wiederum sind bevölkert von Reisegruppen, die mit alten, zu Safarivehikel umfunktionierten Trucks unterwegs sind. Das ist ein Auflauf wie bei einem Pfadfinderlager. Bis tief in die Nacht hinein wird der tagsüber angestaute Durst gelöscht, und dabei geht es geselliger zu als an jedem Wasserloch da draußen in der Wildnis. Morgens ab 4 Uhr klappert bereits wieder Geschirr. Im größten Camp in Etosha, Okaukuejo, sind wir von einer Zeltstadt wie in einem afrikanischen Flüchtlingslager umgeben - ein drastischer Kontrast zu den einsamen Naturerlebnissen tagsüber da draußen in der halbwegs unberührten Kargheit. Doch wir haben gelernt in Namibia (und sehen uns damit in ehrenvoller Gesellschaft mit Löwen und Kassiererinnen): wir reagieren mit hochmütiger Nichtbeachtung …!