Peru: Amazonien

Nach einer eisigen Nacht auf knapp 4000 Metern Höhe kommen meine Mädchen früh morgens nur mühsam in die Gänge. Sabine schweigt ihren Unwillen über ein derart zeitiges Aufbrechen beim Zusammenpacken aus, Lucy ist weniger taktvoll: 6,9 Liter Hubraum verlangen nach Luft, und daran mangelt es hier oben gewaltig. Also röchelt sie und keucht und nagelt und qualmt Tres Cruzes unter Protest zu - geradeso, als gelte es, den Nebelschwaden, die aus der Tiefe hinaufziehen eins entgegenzusetzen.

 

Steil wie die Wand eines Kessels fallen die Abhänge des Bergkammes in die Ebene fast dreieinhalb tausend Meter unter uns. Wir stehen an der westlichen Grenze Amazoniens, am Tor zum Manu Nationalpark. Er ist mit 1,6 Mill. Hektar Fläche halb so groß wie die Schweiz und das artenreichste Regenwald-Reservat der Erde.

 

Langsam rollen wir an. Eine einspurige, schlammige Piste klemmt sich an einen braunen Andenrücken, ehe sie allmählich in die Tiefe hinabstürzt. Nach nur wenigen Höhenmetern tauchen wir in eine Landschaft ein, die das Gegenteil ist von der kargen Tundra des peruanischen Hochlandes: Bergnebelwald liegt über den Hängen und leuchtet in allen Nuancen, die die Farbe Grün hergibt. Dunkle Wolken verfangen sich in Baumkronendächer, reißen sich mühsam los und steigen weiter auf. Neben unserem ausgewaschenen Weg fallen Schluchten steil ins Bodenlose. Sie sind zugewachsen und nur ab und zu blitzen auf ihrem Grund Bachläufe auf. Diese fließen von den kühlen Berghängen hinunter zu den großen Flüssen der Ebene, dem Rio Manu und dem Madre de Dios: Wasser im Überfluß, das mal tröpfelt, mal prasselt, mal strömt und das sich früher oder später vereinigt mit der Mutter aller Flüsse, dem Amazonas.

 

Über 1000 Nebenflüsse speisen den Amazonas – das gewaltigste Gewässernetz der Erde. Rund 6000 Kilometer östlich von der Piste, über die wir da gerade bergab rumpeln, ergießt er rund 180.000 Kubikmeter Wasser pro Sekunde in den Atlantik. Das ist mehr als die nächst kleineren Flüsse auf unserem Planeten (Kongo, Niger, Sambesi, Jangtsekiang, Brahmaputra und Orinoko) zusammen, weiß ich aus dem Internet – und doch ist diese Menge gerade mal ein Viertel dessen, was das Flußsystem tatsächlich an Wasser aufzubieten hat. Der Rest verdunstet, wird von Baumstämmen hochgepumpt oder von Blättern ausgeschwitzt, kondensiert zu Wolken, regnet ab und läßt so einen pulsierenden Kreislauf von vorn beginnen.

 

Irgendwo regnet es immer in Amazonien. Heute genau da, wo wir uns gerade durch den Schlamm wühlen. Nur langsam kommen wir vorwärts. Lucy schlittern von einem Matschloch ins andere. Alle 300 Meter abwärts steigt die Temperatur um etwa 2 Grad/C an, informiert uns unser Reiseführer. Da geben wir ihm gefühlsmäßig uneingeschränkt Recht. Neben uns ragen massive Wände aus ineinander verschlungenen Bäumen empor. Sie sind über und über beladen mit Moosen, Farnen und Orchideen. 200 Baumarten wachsen im Manu Nationalpark auf einem Hektar – in ganz Europa kommen nur 160 vor.

 

Etliche Stunden  rumpeln wir bergab. Lucys Windschutzscheibe ist wie die Leinwand, auf die ein grandioser Film projiziert wird. Wir staunen über eine verschwenderische Fülle der Natur und machen zahllose Zwischenstops, um den Film für Minuten anzuhalten. Erst, wenn der Diesel Ruhe gibt, hören wir die Stimmen des Waldes: Vogelgesänge die pfeifen und krächzen, Wasser das plätschert und gluckert, Wind der Blätter rascheln und Baumstämme knarren läßt. Und wir riechen ihn, den Wald: Manchmal modrig und süß. Manchmal herb und würzig. Manchmal meinen wir, Kräuterdüfte isolieren zu können. Ist da nicht ein Hauch Rosmarin in der Luft? Oder Salbei?

 

Irgendwann triumphiert die Sonne über den Nebel. Gleichzeitig weitet sich jäh das Tal. Wir erreichen den Madre de Dios. Der Fluß ist von grauem Blau und reißend und, in Erinnerung an seine Quelle 2000 Meter über uns, eiskalt. Bald, wenn er die Anden endgültig hinter sich gelassen hat,  wird er zur Ruhe kommen und dann träge Richtung Osten fließen. Über den Rio Madeira mündet der Madre de Dios bei Manaus/Brasilien in den Amazonas. Von dort aus legen seine Wasser noch einmal eine 4000 Kilometer lange Wegstrecke bis zum Atlantik zurück - mit einem Gefälle von gerade ein paar Zentimetern pro Kilometer. Das küstenferne Manaus liegt nur 26 Meter über dem Meeresspiegel.

 

Die Naturgeschichte des Amazonas liest sich spannender als ein John Grisham: Es gab eine Zeit, da floß er nicht nach Osten, sondern nach Westen. Der Lauf des gewaltigen Stroms hatte sich vor Millionen Jahren umgekehrt! Einst mündete ein noch ungleich längerer Ur-Amazonas in den Pazifik und seine Quellen lagen weit im Osten in der heutigen Sahara auf einem damals gemeinsamen Urkontinent Südamerika-Afrika. Das Flußbecken des Nigers in Westafrika und das des Amazonas bildeten vor etwa 130 Millionen Jahren einen gemeinsamen Graben!

 

Dann zerbrach der alte Riesenkontinent. Die nach Westen abdriftende südamerikanische Kontinentalplatte kollidierte allmählich mit der Pazifikplatte. Dieser Zusammenprall ließ die Anden emporwachsen und die wiederum blockierten schließlich die Mündung des Amazonas. Der Wasserspiegel des gestauten Flusses hob sich unaufhaltsam, bis dessen Verlauf sich schließlich umkehrte und er sich in den fernen Atlantik entwässerte …. (Sabine schaut mir gerade über die Schultern und liest die letzten Zeilen. Vielleicht hätte ich doch Erdkundelehrer werden sollen, meint sie – und wenn mich nicht alles täuscht, kühlt dabei ein Hauch Ironie meinen Nacken.)

 

Am frühen Nachmittag erreichen wir Pilcopata, ein Urwaldkaff wie aus dem Bilderbuch: staubige Straßen, streunende Köter, Hütten aus Brettern gezimmert, mit Planen davor gegen den Regen oder die brennende Sonne. Darunter verdösen Männer mit dunkler Haut und bis zum Bauchnabel geöffnete Hemden die zähen, heißen Mittagsstunden. Wir spüren ihre Blicke, als wir die Hauptstrasse hinunterfahren. Vor einer Holzbude gibt’s eine Veranda darauf ein Tisch mit zwei Stühlen, darüber ein Schild: „Restaurant“. Wir nehmen Platz und werden vom hageren Raoul herzlich begrüßt. Zu Essen hat er gegrillten Fisch oder gegrilltes Hähnchen. Wir entscheiden uns für den Fisch und bestellen dazu ein kühles Cerveza.

 

Anderthalb Stunden bleiben wir hängen auf dieser Veranda und beobachten das schläfrige Treiben um uns herum. Raoul erzählt uns, daß es heute am Montag ruhig ist im Ort. Dienstag und Freitag kommt der Lastwagen aus Cusco mit allem Lebensnotwendigen. Dann sei hier Markt und richtig was los.

 

Wir entschließen uns, zu bleiben. Der Reiseführer empfiehlt als Unterkunft die Villa Carmen, eine alte Hazienda etwas außerhalb, die einige einfache Cabañas untervermietet. Vielleicht findet sich da ein Stellplatz für Lucy.

Wir können den Weg zur Hazienda nicht finden. Nach mehreren Runden im Ort hilft uns Elvis, der Taxifahrer von Pilcopata: „Fahrt da vorne durch den Fluß, dahinter führt eine Piste zur Villa Carmen.“ Aber klar doch! Wir folgen seiner Beschreibung und landen tatsächlich vor einem alten, großen Holzhaus mit rotem Wellblechdach und schattiger Veranda. Drumherum ein üppiger, blühender Garten mit einem Teich, dahinter eine ausgedehnte Wiese, auf der wir zwei schwarze Affen beobachten, die sich der Hazienda nähern. Heute will der Film einfach nicht aufhören!

Gretel, die Hausherrin, kommt uns entgegen und heißt uns willkommen. Sie weist uns ein Plätzchen zu, auf dem wir campen können und lädt uns gleich für den Abend bei sich auf der Veranda zum Essen ein, wo wir auch ihren Mann Abel kennenlernen würden.

 

Da sitzen wir dann einige Stunden später in schwüler Abendluft unter spärlichem Neonlicht, in dem Motten und Moskitos ihr Heil suchen. Es gibt Fisch aus dem eigenen See, in Bananenblätter gegart dazu Gemüsereis in Bambusstämmen zubereitet und wieder Bier. Gretel ist eine ausgezeichnete Köchin, Abel ein unermüdlicher Erzähler. Leider murmelt er eher, als daß er spricht und grummelt, als hätten sich seine Stimmbänder ineinander verhakt. Das erleichtert das Gespräch in spanisch nicht unbedingt, aber soviel verstehen wir:

 

Seit 40 Jahren leben die beiden hier auf der Hazienda. Ihre zwei Kinder sind längst ausgezogen; eins nach Lima, das andere nach Australien. 3000 ha groß ist das Land, das sie bewirtschaften und es grenzt direkt an den Nationalpark. Sie leben von Ananas-, Kaffee-, Bananen- und Kastanienanbau. Und von dem bißchen Tourismus. 20 Angestellte beschäftigen sie, meist Tieflandindianer vom Stamme der Piro, die sich auf Abels Land Hütten gebaut haben. Abel experimentiert mit neuen, schonenden Anbaumethoden: er läßt den Dschungel auf Teilen seines Landes wuchern und plaziert dazwischen verstreut Kaffeesträucher, Bananenpflanzen oder Kastanienbäume. Mein Einwand, daß diese Methode zwar umweltfreundlich ist aber auch sehr viel kostenintensiver und daher für den mittellosen Kleinbauern hier kaum praktikabel kontert er energisch mit dem Argument, daß Gottes Erde nicht unter dem Aspekt der materiellen Wirtschaftlichkeit zu behandeln sei (und dabei verknoten sich wieder einige seiner Stimmbänder). Schon wahr, aber das eben in einem Land, in dem 15% der Bevölkerung weniger als einen Dollar pro Tag verdienen.

 

Die Nacht auf 500 Höhenmetern ist herrlich. Tropenklänge ersetzen das "Gute-Nacht-Lied", keine dünne Luft, keine eisigen Temperaturen – wir schlafen so gut wie seit langem nicht mehr.

 

Die kommenden Tage bleiben unvergeßlich: Wir machen wir mit Abel Ausflüge durch das Land. Begleitet werden wir vom Vormann Ephraim, ein liebenswerter, bescheidener Indigena mit einem Grinsen so breit wie der Amazonas. Wir marschieren durch den Urwald. Ephraim schreitet mit Machete voran und schlägt uns eine schmale Schneise in den dichten Dschungel. Abel erzählt uns derweil Geschichten über Amazonien, seine Natur und seine Menschen. Beide zeigen uns, mit welcher Technik hier eimerweise Fisch aus den umliegenden Gewässern herausgezogen wird - auch Piranhas, die nebenbei erwähnt nur halb so gefährlich sind wie ihr Ruf, dafür doppelt so schmackhaft. Wir besteigen Pferde und reiten bei Sonnenuntergang durch Ananasfelder, galoppieren über Wiesen und folgen schmalen Pfaden durch die Wälder. Und immer bewirtet uns Gretel mit wunderbarer amazon’scher Hausmannskost. Die Zeit vergeht wie im Flug, es hätte noch wochenlang so weitergehen können auf der wunderbaren Hazienda Villa Carmen, doch wir müssen bereits nach vier Nächten wieder aufbrechen. Unsere Visa in Peru laufen nächste Woche ab, und bis zur bolivianischen Grenze ist es noch weit.

 

Wir verabschieden uns von Gretel und Abel und Ephraim und allen anderen Angestellten. Wir tauschen Adressen aus und versprechen uns gegenseitig, den Kontakt zu halten. Als wir schließlich aufbrechen und auf dem gleichen schmalen Feldweg das Land verlassen, über dem wir am Vortag noch wie die Gauchos (nun ja … fast …) geritten sind, will keine rechte Freude aufkommen. Wir nehmen uns fest vor, eines Tages hierher zurückzukehren.

 

Im Ort tanken wir noch Diesel (aus einem Eimer mit einem Schlauch, an dessen Ende ein Stück Stoff als Filter dient) und machen uns schließlich auf den langen Weg hinauf ins Hochland von unter 500 Höhenmeter auf über 4000. Lucy bewältigt den Aufstieg, als wär’s ein Spaziergang im Stadtpark. Die Nacht verbringen wir wieder auf Tres Cruzes in eisigen Höhen, da, wo vor wenigen Tagen unser kurzer Ausflug ins Tiefland begonnen hat. Wir schlafen schlecht in der dünnen Luft und am nächsten Morgen wollen wir alle drei nicht recht in die Gänge kommen. Sabine schweigt vor sich hin, Lucy qualmt die Anden zu und ich … ich starre hinunter in die Tiefe und träume davon, ein Gaucho zu sein …!