Chile: Carretera Austral

Wenn eine rauhe Schotterpiste anstatt einer schlichten Nummer einen Namen trägt, dann kann man davon ausgehen, dass sie einen höheren Zweck erfüllt als die profane Verbindung zwischen Punkt A und Punkt B. Ein Name ist der sichere Hinweis dafür, dass nicht ihre Endpunkte, sondern die Straße an sich das Ziel ist. Dalton Highway in Alaska z.B. oder Gunbarrel Highway in Western Australia lassen Traveler-Herzen höher schlagen – und auch in Chile gibt es eine Straße, deren Name unter Reisenden gehandelt wird wie Rocky Point unter Surfern: die Carretera Austral.

 

Wenn das der alte Pinochet geahnt hätte, dass er mit dem Bau dieser Piste durch den Großen Süden Chiles vor allem deutschen Wohnmobilisten und israelischen Backpackern einen mächtigen Gefallen tun würde. Die Carretera Austral windet sich über 1200 Kilometer durch ein wildes Urland vorbei an tiefblaue Seen und eisige Gletscher, an düstere Wälder, scharf eingeschnittene Fjorde und schneebedeckte Vulkane. Doch es waren militärische Erwägungen und keineswegs touristische, weshalb der Diktator in den 70er Jahren  parallel der Grenze zu Argentinien eine Nord-Süd-Schneise in die Wildnis schlagen und dafür mal eben satte 300 Millionen US$ springen ließ. Heute scheinen die meisten Chilenen nicht mehr an die Pinochet-Zeit erinnert werden zu wollen (einer Diktatur, die laut Isabel Allende zeitweise von einer Mehrheit des Volkes für gut geheißen wurde). Der ursprüngliche Name der Straße, „Carretera Longitudinal Austral Presidente Pinochet“, wurde kurzerhand halbiert und selbige als „Chiles schönste Route in die Einsamkeit“ für Touristen freigegeben.

 

Im kleinen Städtchen Quellon im Süden der Insel Chiloe steuern wir Lucy auf eine Fähre, die mit zweieinhalbstündiger Verspätung endlich ablegt. Sie bringt uns bei klarem Sonnenschein über den Golf von Ancud hinüber nach Chaiten, unserem Ausgangspunkt für die Reise entlang der Carretera. Das Schiff ist bis zum letzten Quadratmeter belegt mit schweren LKWs, Kleinbussen und PKWs. Neben Lucy steht der Pickup-Camper von Diana und Don und Töchterchen Liana aus Kalifornien, die mit diesem Leihvehikel drei Wochen durch das Land reisen. Wir plaudern über das Reisen im Allgemeinen, über Chile im Besonderen, über Pinguinkolonien in Patagonien und Straßenpolizisten in Kalifornien. Eine nette Begegnung, die die fünf Stunden auf dem Wasser erheblich verkürzt und in den nächsten Tagen ihre Fortsetzung finden wird.

 

Chaiten entpuppt sich als schmuckloses Kaff mit eingeschossigen Holzhäusern und überdimensionierten Avenidas, die ahnen lassen, dass seine Stadtplaner ursprünglich größeres vorhatten. Doch der Ort liegt allerschönst zwischen Meer und Bergland. Im Nordosten ragt der Vulkan Michimahuida auf, im Süden der Corcovado - man kann die Stadtplaner ja durchaus verstehen. Vier Kilometer nördlich von Chaiten empfiehlt unser Campingführer einen Zeltplatz mit Strom und heißer Dusche direkt am Wasser.

Rechtzeitig zum Sonnenuntergang richten wir uns dort ein Plätzchen ein auf grüner Wiese nur Meter von einem kieseligen Strand. Wir sind zunächst die einzigen Gäste, später werden sich noch Diana und Don zu uns stellen. Über dem Meer geht die Sonne als blasse Scheibe unter, taucht das Land in ein weiches Magenta und läßt die Schaumkronen der Wellen silbrig leuchten. In der Ferne steigt Corcovado fast ebenmäßig aus dem Wasser, im Vordergrund, direkt vor unseren Augen, tauchen Delfine auf und surfen verspielt in der Brandung. Mit dem Fernglas beobachten wir sie und in einiger Entfernung auch eine Seelöwenkolonie - und das alles geschieht, während wir beim Abendessen sitzen … der wilde Süden Chiles empfängt uns mit einer grandiosen Ouvertüre …!

 

Am nächsten Morgen nehmen wir die Carretera Austral unter die Räder. Die ersten Kilometer südlich von Chaiten rollt Lucy über Asphalt, dann verengt sich die Straße zu einer einspurigen Schotterpiste. Sie folgt dem Rio Yelcho zunächst durch grünes Weideland, bald durch dunkle Wälder. Der Himmel ist wolkenverhangen, ein kühler Wind pfeift durch das Tal. Der Verkehr ist spärlich, das Land wild und menschenverlassen. Da steht ein junges Pärchen im Nirgendwo am Straßenrand. Sie winken uns zu und wir halten an, weil wir glauben, sie brauchen Hilfe. Doch die beiden sind israelische Tramper, die auf eine Mitfahrgelegenheit Richtung Süden hoffen. Leider können wir sie nicht mitnehmen. So viel zusätzliches Gewicht in Lucys Kabine würde auf der welligen Piste die eh schon brüchige Aufhängung zu sehr belasten.

 

Auf den nächsten 1000 Kilometern werden wir noch häufiger vor allem israelischen Trampern begegnen, manche von ihnen kommen mangels Verkehr über Tage nicht vom Fleck weg. Dennoch: per Anhalter unterwegs auf der Carretera Austral scheint in Israel schwer im Trend zu liegen – die Straße mit dem eigenen Wohnmobil zu bereisen hingegen in Deutschland.

 

Sage und schreibe 12 Fahrzeuge mit deutschem Nummernschild begegnen uns in den ersten beiden Tagen in einsamer Pampa. So viele haben wir auf unserer gesamten Strecke zwischen Kolumbien und Chile nicht gesehen. Beim ersten Fahrzeug halten wir noch begeistert an für einen kurzen Plausch, beim zwölften heben wir nur noch im Vorbeifahren die Hand zu einem müden Gruß. Was mag in den Köpfen der heimischen Chilenen vor sich gehen angesichts dieser Armada teils martialisch ausgerüsteter Reisefahrzeuge aus Deutschland?

 

Der Rio Yelcho ergießt sich - na klar - in den Lago Yelcho. An seinen Ufern verbringen wir die nächste Nacht wieder auf einem prima ausgestatteten Campingplatz und – erstaunlich – wieder ohne Nachbarn. Unter dunklen Wolken ist der Gletschersee grau und seine Wasser in steter Bewegung. Wir marschieren den Strand entlang bis ein dichter Urwald, der bis ans Wasser reicht, ein weiteres Vorwärtskommen unmöglich macht. Zurück an unserem Lager entfachen wir ein Feuer und grillen eine Lachshälfte, die wir in Quellon am Fischmarkt gekauft hatten. Der steife Wind bläst mir den beißenden Rauch in die Augen. Doch selbst ist der Mann: die Tauchbrille wird zur Rauchbrille und schafft Abhilfe!

 

Weiter auf der Carretera Austral: entlang des wild schäumenden Rio Palena oder durch wundervollen farn- und lianenbewachsenen Urwald. Wir kreuzen den Nationalpark Queulat, biegen in einen schmalen Seitenweg ein und campen nahe dem Ventisquero Colgante, dem „hängenden Gletscher“. Am nächsten Morgen packen wir Brotzeit in einen Rucksack und marschieren hinauf, dem Gletscher entgegen. Unser Weg führt zunächst über eine wackelige Hängebrücke, vor der ein Schild warnt: maximal 4 Personen. Dann geht es steil bergauf durch kalten, südchilenischen Regenwald, durch eine finstere Welt der Flechten und Farne, der Buchen, Fuchsien und Bambushaine und der mächtigen Panguepflanzen, die unserem Rhabarber ähneln. Deren Stiel wird auch wie Rhabarber gekocht und gegessen, deren gewaltige Blätter allerdings sind so groß wie Hüttendächer. Einmal mehr verzaubert uns die wuchernde Natur eines Waldes.

 

Nach knapp zwei Stunden endet der Pfad an einer steilen Kante. Beinahe zeitgleich müht sich die Sonne durch die Wolken. Vor uns in einiger Entfernung schiebt sich drohend die Gletscherzunge des Colgante über den Kamm zwischen zwei Bergen. Ein blau-weißer Wasserfall stürzt aus der Eismasse hinunter in die Tiefe, bildet einen reißenden Bachlauf und ergießt sich einige hundert Meter unterhalb in einen milchigen See. Die Kulisse ist so vollkommen, sie wäre ein perfektes Hintergrundgemälde für ein Dinosaurierskelett im Berliner Naturkunde Museum.

 

Auf dem Weg zurück ins Lager begegnen wir Don und Diana, die die kleine Liana in einer Kraxe hinaufschleppt. Sie haben ihren Wagen neben Lucy geparkt. Nach Sonnenuntergang sitzen wir einige Stunden beieinander und plaudern. Beide sind Biologen, Don hat jahrelang in der Antarktis geforscht, Dianas Revier ist die Tiefsee. Ein geistreicher, entspannter, humorvoller Abend ist das – mit keinen will diese Kombination so selbstverständlich gelingen wie mit Amerikanern.

 

Wir nähern uns Coyhaike, dem – nun ja  – Politik-  und Wirtschaftszentrum der Provinz Aisen, durch welche wir seit 3 Tagen unterwegs sind. Rund 90.000 Menschen - das ist nicht viel mehr als in Sendling - teilen sich in Aisen eine Fläche von 109.000 Quadratkilometer - das ist etwa so viel wie Bayern und Baden-Württemberg zusammen. Die Hälfte der Einwohner lebt in Coyhaike.

 

Wir campen einige Kilometer außerhalb auf einem netten Zeltplatz. Der freundliche, ergraute Platzwart hat den herrlichen Namen Carlos Ponce. Er trägt eine ausgebleichte amerikanische Baseball-Kappe, in die er jede Menge Vogelfedern gesteckt hat. Wenn er Hecken schneidet, Toiletten reinigt oder abends auf einer Holzbank in die Ferne starrt, pfeift er pausenlos vor sich hin. Carlos Ponce ist ein bisschen wie der lebendig gewordene Papageno aus Mozarts Zauberflöte, und ich wette, in seiner kleinen Hütte hält er einen Käfig voller Vögel versteckt. Er erzählt uns, dass in diesem Sommer viele deutsche und israelische Touristen unterwegs sind. Da schau her!

 

Coyhaike hinterlässt zunächst einen eher trostlosen Eindruck bei uns. Wir verbringen Stunden im Internetcafe und essen in einem Restaurant in der kleinen Fußgängerzone Fisch. Später kaufen wir in einem gut bestückten Supermarkt reichlich Lebensmittelreserven und bei einem Kfz-Zubehörgeschäft einen neuen rechten Außenspiegel (dem alten hat sich auf enger Piste ein Ast in den Weg gestellt). Am Abend auf dem Weg zurück zum Campingplatz korrigieren wir unsere Ansicht über das Städtchen. Sein gefälliger Charme erschließt sich uns erst auf den zweiten Blick, seine Lage zwischen Bergen, Seen und grünen Weiden ist allemal zauberhaft.

 

Um Coyhaike herum ist die Carretera Austral asphaltiert, Lucy hat eine Verschnaufpause. Wir rollen durch ausgedehntes Weideland, wo noch zu Beginn des letzten Jahrhunderts undurchdringlicher Urwald stand. 1937 verabschiedete die chilenische Regierung ein Gesetz über die Kolonisierung des Landes, das besagt, das Land nur dann endgültig in Privatbesitz übergeht, wenn es vom Urwald befreit ist. Die wenigen Siedler ließen sich nicht lumpen und brannten selbigen innerhalb weniger Jahre großflächig nieder. Noch heute stehen verkohlte Baumstümpfe wie Mahnmäler in den Hügeln, drum herum weiden Holsteiner Kühe.   

 

Dann holpern wir wieder über wellblecherne Piste, die zwar staubig ist aber bis auf wenige Abschnitte problemlos zu befahren. Die Straße windet sich durch das Valle del Rio Simpson, durch sumpfige Lagunen und Moorlandschaften, steigt dann auf 1100 Meter an und wird eine Weile begleitet vom bizarren Panorama des Cerro Castillo. Das bis zu 2675 Meter hohe Felsengewirr steht wie eine phantastische Festung in wilder Urlandschaft.

 

 

Wir glauben uns in Mittelerde zu bewegen, in einer Welt der Hobbits, Orks und Ringgeister (und mich beschleicht das Gefühl, dass diese bezaubernde Frau da neben mir auf dem Beifahrersitz in Wahrheit die Elbenprinzessin Arwen ist … magisches Chile!).

 

Schließlich erreichen wir die Ufer des Lago General Carrera, dessen Wasser türkis im Licht der späten Nachmittagssonne schimmert. An seiner Westseite ragen steil die Gipfel der südlichen Anden noch einmal bis auf über 4000 Meter auf, seine Ostseite – auf argentinischem Boden  – dehnt sich bereits in die flache patagonische Wüstensteppe aus.

An einem Kiesstrand steht der braune Bulli von Anke und Nils neben einem schweren Mercedes Expeditionsmobil. Der gehört dem deutsch-argentinischen Pärchen Bettina und Christian, die als fahrende Clowns durchs Land ziehen. Wir gesellen uns zur Runde dazu und gemeinsam verbringen wir einen gemütlichen Abend in der bequemen Kabine des Mercedes LKWs. Wir erzählen uns gegenseitig Geschichten über Begegnungen mit lateinamerikanischen Polizisten und Militärs. Ha, ein abendfüllendes Thema ist das und rückblickend zum totlachen.

 

Am nächsten Morgen kriegen wir einen ersten Eindruck von den berüchtigten patagonischen Winden zu spüren. Die pfeifen nämlich heftig um die Fahrzeuge, lassen Lucy schaukeln wie einen Gänsearsch und das Wasser des Lago General Carrera Wellen schlagen wie ein Ozean. Die Runde löst sich auf. Wir folgen der Schotterpiste um den See herum, die sich entlang seines Südufers abenteuerlich an steile Abgründe presst und in engen Kurven über die letzten Berghänge windet.

Die Fahrt Richtung Osten ist ein Abschied: nach Monaten verlassen wir die Anden, dieses großartige Gebirge, das uns seit Kolumbien begleitet hat. Freilich werden wir uns seinen letzten Ausläufern noch mal nähern, am Fitzroy Massiv etwa oder im Nationalpark Torres del Paine, weiter im Süden. Doch wir werden keine Pässe mehr erklimmen, keine dünne Luft mehr atmen, den Sternen nicht mehr so nahe sein. Das läßt uns still werden und auch ein wenig traurig. Unsere Erinnerungen an Südamerika werden untrennbar sein mit den Erinnerungen an die Welt der Anden.

 

Kurz vor der argentinischen Grenze erreichen wir das reizlose Chile Chico direkt am See. Das Kaff besteht im Wesentlichen aus einer schon wieder viel zu groß geratenen Hauptstrasse. Im mittleren Bereich, da wo sich Supermarkt, Internetcafe und Bushaltestelle treffen, hängen an den Lichtmasten schäbige Lautsprecher, aus denen von morgens bis abends lärmende Musik trällert. Die Liebe aller Lateinamerikaner zu scheußlich triefender Musik aus miserablen Anlagen nimmt bisweilen pathologische Formen an. Überall dudelt es und zwar zu allen Tages- und Nachtzeiten und immer aus scheppernden Boxen. Wir saßen einmal in einem Restaurant, da glaubte der Wirt, dem Gast einen besonderen Gefallen zu tun, wenn er selbigen mit zwei verschiedenen Musikprogrammen quält. Paul Theroux stellt in seinem Buch „Der alte Patagonienexpress“ die gewagte These auf, dass Latinos ständig Musik hören, um nicht denken zu müssen. Nun ja, dem wollen wir uns nicht anschließen. Wahr aber ist, dass der ewige Lärm das Denken nicht gerade erleichtert. Wir sitzen also im Internetcafe von Chile Chico, draußen blärrt es aus den Lautsprechern und drinnen krächzt ein Radio und ich krieg keine Zeile zustande.

 

Die Nacht verbringen wir im Obstgarten eines Hostals weit genug außerhalb vom Ortskern und seiner Musik. Kalt ist es hier unten, am Rand der patagonischen Wüste. Wir ziehen uns bald in die Kabine zurück, kochen uns eine schlichte Kartoffelpfanne, öffnen zum Essen ein Fläschchen Rotwein, kuscheln uns danach in Decken, zünden eine Kerze an und nehmen unsere Bücher zur Hand. Sabine hat sich aus den USA den neuen John Irving mitgebracht, ich amüsiere mich immer noch mit Paul Theroux’ Reisegeschichten … und gerade, als wir die ersten Zeilen lesen, da ertönt aus dem Haupthaus … na, Ihr könnt es Euch schon denken …!