Freitag in San Miguel de Allende

"There’s something magic about this place …!" haucht mir Alexandro in gebrochenem Englisch entgegen, und er meint es todernst. Vor ihm auf der schmierigen Theke der Bar el Tenampa in der Calle Insurgentes steht ein halbvolles Glas Tequilla. Sein Atem verrät, daß es nicht sein erstes heute Abend ist. Alexandro hat eine Gitarre um seinen Bauch gebunden. Wenn er nicht gerade an seinem Tequilla nippt oder über seine Stadt spricht, spielt er auf ihr. Dann steigt Gustavo ein mit seinem Akkordeon, und gemeinsam singen sie heiter-melancholische Lieder über Liebe und Freundschaft und über ihr wunderschönes Mexiko, auf das sie so stolz sind. Arthuro, der Mann hinterm Tresen, schenkt noch mal nach. Sein Großvater, erzählt er mir, hat die Bar vor 43 Jahren eröffnet, sein Vater hat sie fast heruntergewirtschaftet, jetzt hat Arthuro sie übernommen - und so wie’s ausschaut, wird er wohl auch nicht reich mit ihr werden. Aber Reichtum ist eben relativ …! Es ist 23 Uhr. In San Miguel gehen langsam die Lichter aus. Der Tag war lang. Um halb zehn Uhr vormittags verließen wir unser kleines Häuschen in der Calle Organos im Zentrum der Stadt ...:

 

Unser Weg zur Sprachschule führt zunächst zur geschäftigen Calle Insurgentes, in der alte Mercedes-Busse über rauhes Kopfsteinpflaster rumpeln. Ansonsten ist noch nicht viel los hier. Mexikaner sind Langschläfer. Um diese Uhrzeit erst bauen die ersten Händler ihre Marktstände auf. Vor zehn Uhr hat kaum eines der kleinen Geschäfte hinter farbiger Fassade geöffnet. Das Wetter ist schön – wie immer halt: wolkenloser Himmel, um diese Uhrzeit noch etwas kühl, aber die Jeansjacke, die ich trage, hätt' ich mir sparen können.

 

Wir biegen in die Calle Hidalgo ein, wo’s im kleinen Hotel Allende einen passablen Kaffee „para llevar" (zum Mitnehmen) gibt. Die enge Gasse steigt an und mündet in den Jardin Principal, den Hauptplatz der Stadt mit seinen schattenspendenden Jacaranda-Bäumen. An dessen Südseite will die Pfarrkirche Parroquia de San Miguel nicht so recht ins Bild passen mit ihren neugotischen Elementen – oder ist es purer indianischer Fantasiestil? Die Kolonialkirche aus dem 17. Jahrhundert, wurde gegen Ende des 19. Jahrhunderts von dem Indigena-Architekten Zeferino Guttierez umgebaut. Eine Postkarte des Kölner Doms soll ihn zu seinem Entwurf inspiriert haben. Er skizzierte – so wird hier erzählt – mit einem Stock seine Pläne in den sandigen Boden und beauftragte seine Baumeister, so etwa in der Art den Umbau vorzunehmen. Mehr als hundert Jahre später steht die Fassade immer noch – der Plan ging also auf!

 

Die Calle Correo heißt so, weil in ihr die „correo" die Post ist. An ihr laufen wir vorbei und mühen uns noch mal einen steilen Anstieg auf. Unsere Beine sind schlapp heute. Vielleicht liegt’s am Salsa-Kurs von gestern abend. In Hausnummer 46 ist das Centro Bilingue. Seit drei Wochen lernen wir in dieser Sprachschule täglich drei Stunden spanisch. Lupita, unsere Lehrerin, ist nicht nur eine aufregende mexikanische chica, sondern auch unendlich geduldig. Wenn wir es locker fertig bringen, innerhalb 10 Minuten 10 mal den gleichen grammatikalischen Fehler zu machen, erklärt uns Lupita mit einer fast unerträglichen Gelassenheit zum 11. Mal die Regel. Ihr Unterrichtsstil ist zweifellos erfolgreich: der tägliche Einkauf in spanisch klappt nach wenigen Tagen ganz gut, selbst kleine Gespräche können wir nach kurzer Zeit führen, und gestern Nacht habe ich zum ersten mal in spanisch einem Deppen, der um halb fünf Uhr morgens seinen Achtzylinder nebst Stereoanlage vor unserem Schlafzimmerfenster hat laufen lassen, ordentlich zusammensch... können. Lupita ist echt klasse!

 

Wenn wir um ein Uhr die Schule verlassen, knurrt uns mächtig der Magen. Vor ein paar Tagen haben wir im Hinterhof eines stattlichen Kolonialhauses in der Calle Mesones ein kleines, feines Restaurant entdeckt, das sich wohl in den verbleibenden drei Wochen zu unserem Stammladen entwickeln wird. Im Schatten alter Laubbäume sitzen wir auf unbequemen, gußeisernen Stühlen, essen gegrillten Fische, gefüllte Tortillas oder auch nur einen Salat und trinken ein Glas Baja-Chardonnay. Manchmal sind’s auch zwei, dann brauch ich aber anschließend ein Mittagsschläfchen, und dazu hab ich heute keine Zeit! Im Waschsalon gleich ein paar Häuser weiter holen wir unsere Klamotten ab, die wir gestern Nachmittag abgegeben haben. 7 Kilo Schmutzwäsche waren das, jetzt sind sie sauber und geglättet in Folie eingeschweißt. Wir zahlen 70 Pesos, keine 6 Euro.

 

Wir laufen weiter die Calle Mesones hinunter, vorbei an edlen Galerien und Feinkostläden. Nicht unbedingt normal für ein mexikanisches Städtchen im Hochland, aber San Miguel ist eben auch nicht typisch: Wegen seiner international sehr angesehenen Kunstakademie wurde der Ort zum Zweitwohnsitz vieler Künstler und Kunstliebhaber, wegen seines traumhaften Klimas zu einer Lieblingsadresse für feinsinnige amerikanische Pensionäre – San Miguel de Allende avancierte zum mexikanischen Kunst- und US-amerikanischen Ruhestands-Dorado. Das bringt harte US-Dollar in die Stadt, weshalb die prachtvollen Kolonialbauten auch fein saniert und opulent herausgeputzt sind.

 

Gleichzeitig schafft es eine Kluft zwischen den wohlhabenden Ausländern und der ärmeren Bevölkerung, die in der Calle Mesones ganz besonders augenfällig wird: hier kauft kein Mexikaner ein, die Preise für Designerklamotten und Sushihäppchen haben amerikanisches Niveau, die jungen Mädchen, die in den Geschäften arbeiten, tun dies jedoch immer noch für die üblichen 160 US$ im Monat. Ein Cappuccino im Cafe um die Ecke kostet ihnen 5% ihres Wochenlohns.

Am untersten Ende des sozialen Gefälles führen alte Indiofrauen ein unwürdiges Dasein. Im Stich gelassen von ihren Familien, die nicht selten in den USA ihr Glück versuchen, sitzen sie am Straßenrand und betteln um ein paar Pesos. Sie sind die Verlierer in einer Stadt, in der zwei Parallelwelten - so scheint es manchmal - versuchen, sich zu arrangieren ohne sich dabei zu Nahe zu kommen.

 

Aus der Calle San Francisco tönt blecherne Musik herüber. Eine Prozession zu Ehren eines der zahllosen Heiligen schreitet gemächlich hinunter Richtung Jardin. Eine Blaskapelle führt die Gläubigen an. Ihr Musikverständnis beschränkt sich im wesentlichen aufs Lautspielen: je lauter desto näher dem Himmel. Ihr folgen vor allem ältere Männer und Frauen, die - Kerzen in der Hand haltend - gottesfürchtig durch die Gassen ziehen. 90% aller Mexikaner sind katholisch. Damit ist das Land die zweitgrößte katholische Nation der Welt. Im Mittelpunkt des Alltagsglaubens steht die Verehrung der Kirchenheiligen. Man ruft sie um Gesundheit und Glück an und ihre Patronatsfeste werden im ganzen Land mit derartigen Prozessionen (und anschließendem Feuerwerk) begangen, wie wir sie heute in der Calle San Francisco sehen. Keine Woche ohne eine Prozession, und wenn es nicht die Kirche ist, die feiert, dann eben das Militär, daß zu Ehren eines mexikanischen Freiheitskämpfers stramm durch die Strassen marschiert. Fiesta Mexicana!

 

Es wird Zeit, daß wir nach Hause kommen. Für heute abend habe ich Karten für einen Stierkampf, und bis dahin muß ich noch Hausaufgaben machen. Was haben wir Glück mit unserem Häuschen in der Calle Organos. Wir hatten keine Unterkunft gebucht, bevor wir in San Miguel eintrafen. Im Januar gilt die Stadt als dicht und tatsächlich sah es nach unserer Ankunft so aus, als würden wir uns mit einem kleinen, ungemütlichen Appartement begnügen müssen. Durch Zufall entdeckten wir eine kleine Hausverwaltung, in dessen Ein-Raum-Büro der herzliche, übergewichtige Enrique hinter einem Schreibtisch saß, auf dem sich die Akten beeindruckend hoch stapelten. Wir schilderten Enrique unser Anliegen, und tatsächlich konnte er uns eben jenes eingeschossige Haus in der Organos zu einem günstigen Preis anbieten. Es hat einen typisch mexikanischen Grundriß: das Zentrum des Hauses bildet ein offener Patio, ein Innenhof, in dessen Mitte ein kleiner Springbrunnen plätschert. Drumherum reihen sich Wohnzimmer, zwei Schlafzimmer (mit je einem Bad), Küche und eine überdachte Veranda aneinander. Um vom Schlafzimmer in die Küche zu gelangen, müssen wir durch den offenen Innenhof. Ist es nicht herrlich? Eine kleine Steintreppe führt auf die Dachterrasse, die – teilweise überdacht – mit einer gemütlichen Sitzecke und einem Jacuzzi ausgestattet ist. Von hier oben aus blicken wir über die Stadt und die ihr umgebenen Hügel. Wir wohnen wie die Könige in einem kleinen Palast. Letzte Woche besuchten uns Günter und Bettina für einige Tage. Die beiden verschifften mit uns Ihren MAN nach Halifax, und seither kreuzt sich deren Reiseweg immer wieder mit dem unserigen. Ach, wie haben wir es genossen, in dieser beschaulichen Umgebung zusammen 'rumzuklönen, gemeinsam in der großzügigen Küche - auf einem 4(!)-Flammenherd - zu kochen und unter der malerischen Veranda bei Brunnengeplätscher Karten zu spielen. Einige Tage vorher haben Haye und Willeke aus den Niederlanden uns besucht. Es tut gut, Platz und Gäste und ein eigenes, anständiges Klo zu haben …, Lucy mag uns diese Untreue verzeihen!

 

Am frühen Abend pack ich Kamera, Objektive und Stativ zusammen und mach mich auf, quer durchs Städtchen zum alten Stierkampfschauplatz. Sabine verzichtet auf das Spektakel, recht sollte sie haben. Mitten in der Altstadt San Miguels steht eine alte Arena, die 3000 Menschen Platz bietet. Die Veranstaltung ist ausverkauft, und mit Erstaunen stell ich fest, daß hier die Mexikaner weitgehend unter sich sind. Eine kleine Blaskapelle sorgt für Stimmung, Tacos mit Chilisoße oder Limonensaft werden verkauft, Bier und Rotwein sowieso. Stolze Hombres in spitz zulaufenden Cowboystiefeln und mit eleganten Sombreros auf ihren Häuptern erscheinen in Begleitung rassiger Chicas, deren Ohrringe so gewaltig sind, das Kopfdrehen zu einer echten Herausforderung wird. Es riecht nach Salsa, nach Parfüm und Pferd und Cerveza - nach Trieben.

 

Die Regeln beim Corrida del Toros sind streng und rituell und grausam. Ich hab nicht alles begriffen, aber mich im Internet schlauer gemacht: Zu Beginn der Veranstaltung ziehen die Beteiligten in die Arena ein und präsentieren sich dem Publikum. Der heutige Abend gehört den Picadores, den Lanzenreiter. Die Toreros (Stierkämpfer) erbitten symbolisch den Schlüssel zur Puerta de los Toriles (dem Tor der Kampfstiere) vom Präsidium, dessen Präsidentschaft eine höher gestellte Persönlichkeit aus dem öffentlichen Leben übernimmt.

Der eigentliche Kampf besteht aus drei Teilen, die durch Trompetensignale voneinander getrennt werden. Zunächst wird der Stier von dem Picador mit Lanzen im Nackenbereich verwundet. Doch soll das Tier nur gereizt, nicht geschwächt werden. Im zweiten Teil sticht der Torero dem armen Geschöpf mit Bändern versehen Spieße so in den Rücken, daß sie hängenbleiben. Sein Ziel ist es, den Muskelstrang zwischen den Schulterblättern des Stieres zu treffen und zu schwächen. Besonders gelungene Figuren des Lanzenreiters begleitet das Publikum mit lauten „Olé" -Rufen. Umgekehrt werden schlechte Akteure gnadenlos ausgepfiffen.

 

Im dritten Teil des Kampfes schließlich wird der Stier noch einmal beinahe tänzerischen Bewegungsabläufen folgend zu Angriffen provoziert, bevor schließlich der Picador dem blutüberströmten Tier mit seinem Degen tief in den Nacken sticht, zwischen die Schulterblätter hindurch um möglichst das Herz zu erreichen. Das gelingt freilich in keinem der vier Kämpfe, und so muß jedesmal ein Helfer – ich nenn ihn jetzt mal Schlächter – mittels eines gezielten Dolchstosses ins Genick dem Spektakel ein erlösendes Ende bereiten.

 

Doch es geht weiter mit der Grausamkeit: Als Trophäe kann der Picador ein Ohr oder beide Ohren des Tieres erhalten und schreitet damit eine Ehrenrunde durch die Arena ab. Das Publikum begleitet ihn mit frenetischen Jubelrufen, die Senioras werfen ihre nach Parfum duftenden Halstücher hinab, die Seniores ihre Sombreros. Während dessen wird der tote Stier von einem gewaltigen Hengst aus der Arena geschleift und die Kapelle spielt heiter den Paso Doble.

 

Rund 20 Minuten dauert jedes dieses rituellen Abschlachtens, welches als Kampf bezeichnet wird. Doch was ist das für ein Kampf, in dem der Sieger von vornherein feststeht. Der Picador präsentiert sich stolz und mutig und vermeintlich respektvoll gegenüber dem Stier und zelebriert in Wahrheit das feige, demütigende Hinrichten eines hilflosen Geschöpfes, das nie eine Chance hat. Freilich berührt die Atmosphäre in dieser alten Arena – die Musik, die Jubelrufe, die Gerüche, die schönen Frauen, die blutigen Kampfszenen – in mir einen Nerv (oder Instinkt), der für Augenblicke jedes kritische Urteilsvermögen untergräbt. Da steh ich dann zwischen kleingewachsenen Mexikanern und brülle euphorisch „Olé" … und bin selber einigermaßen überrascht darüber. Gleichwohl: Instinkt, Kultur, Tradition hin oder her - der Stierkampf stellt die perverse Krönung eines kindischen Macho-Gehabes dar und gehört verboten!

 

Auf dem Nachhauseweg durch die dunklen Gassen von San Miguel de Allende wirkt die Stadt wie die perfekte Kulisse eines melancholischen Roadmovies. Die schwachen Straßenlaternen zeichnen skurile Schatten auf alte Gemäuer. Der Wind spielt mit einer Zeitung, er hört für einen Augenblick auf und liest: „La Candeleria, una tradition de luz, flores y religion." Doch noch nicht so gut, mein Spanisch. Ich überquere den Jardin de Principal, schlendere die Calle Recreo hinunter zur Calle Mesones und höre Musik aus einer kleinen Bar mit echten Salontüren. Ein Tequilla, denk ich, kann nach dem Blutrausch nicht schaden und trete ein. Da stehen sie: Alexandro mit der Gitarre, Gustavo mit dem Akkordeon, Arthuro hinterm Tresen und ein vierter, dessen Name ich nicht weiß. Und alle starren sie mich an, als hätten sie die ganze Zeit auf mich gewartet …!