Feuerland

Als 1520 der portugiesische Entdecker Fernando Magellan nach wochenlanger Suche einer Ost-West-Passage zum Pazifik hin jene Meerenge durchsegelte, die später nach Ihm benannt werden sollte, als er sein Schiff in eiskalten Gewässern unter tiefliegenden Wolken vorbei an sturmumtoste Eiländer und düstere Klippen navigierte, sah er des Nachts im Süden ein karges Land, das seltsam erhellt war von flackernden Lichtern. Was mögen sie gewesen sein? Waren es die Feuer der Alakaluf, ein Volk von Kanunomaden, die mit ihren Booten umherzogen und Fische und Meeressäuger jagten. Oder sah Magellan die Nachtlager der Sek'nam, die zu Fuß hatzten und sich vorwiegend von Guanakos ernährten? Oder brannten da die Lichter der Haush, die sich selber Manekenk ...? Magellan hat es nie erfahren, er betrat nie den Boden dieser geheimnisvollen Insel, an die er da vorbeisegelte. Doch er gab ihr jenen Namen, der noch heute magische Assoziationen weckt: Tierra del Fuego, Feuerland.

 

Zweieinhalb Stunden dauert die Fährüberfahrt von Punta Arenas über die Magellanstraße nach Porvenir. Als wir am späten Nachmittag den grauen Boden Feuerlands betreten, herrscht mutmaßlich ähnliches Wetter wie damals vor bald 500 Jahren: es ist ekelhaft kalt und regnerisch. Ein stürmischer Wind modelliert Sabines Haarfrisur zu durchaus interessanten Skulpturen und reißt ein Loch in die Abdeckung des Motorrollers. Porvenir ist mit 5000 Einwohnern größte chilenische Stadt auf der Insel. Vielleicht liegt's ja am trostlosen Wetter, doch für uns verströmt der Ort - im Gegensatz zur Beschreibung im Reiseführer - den Charme eines städtischen Bauhofs: entlang der Durchgangsstraße reihen sich Wellblech- und Holzbretterbuden aneinander, das architektonisch herausragendste Bauwerk dürfte ein voluminöser Gastank am Ortsrand sein.

 

Wir folgen einer Schotterpiste, die - eingekeilt zwischen rauher See, kargem Grasland und düsterem Himmel - Richtung Süden führt. Unsere Stimmung ist ambivalent wie das Wetter in Patagonien, schwankt zwischen heiterer Euphorie und trüber Melancholie: Wir sind in Feuerland! Bewegen uns quasi auf die Zielgerade unserer Reise zu! Herrje, wir haben es geschafft! Das macht uns stolz. Und still.

In einer weiten Bucht mit steinigem Strand richten wir uns für die Nacht ein; ziehen unsere Regenjacken über und laufen noch ein paar hundert Meter am Wasser entlang bis zu einer verlassenen Fischerhütte. Zurück in unserer beheizten Kabine wärmen wir den Linseneintopf vom Vortag auf und starren hinaus in eine Welt, die sich in der endlosen Dämmerung in diesen Breiten wie ein Schwarz-Weiß-Photo vor uns dartut. Sie ist auf eine düstere Weise wunderschön. In der Nacht fallen die Temperaturen bis nahe an den Gefrierpunkt. Ruhelose Winde rütteln wie schnaubende Monster an Lucy. Lonely Planet schreibt über Feuerland: „If you are wondering what it feels like to be at the end of the world, look no further ...."

 

Feuerland ist per Strich auf die Landkarte zwischen Chile und Argentinien geteilt worden. Gegen Mittag des nächsten Tages passieren wir die Grenze. Die Formalitäten dauern. Auf chilenischer Seite sind gerade zwei Überlandbusse angekommen, auf argentinischer ist das Computersystem zusammengebrochen. Chilenische Zollbeamte lästern über ihre argentinischen Kollegen, argentinische über chilenische sowieso. Als einziges Land in Südamerika stand während des Falklandkrieges Chile auf britischer Seite. Diesen Fauxpas wird man dem Land in Argentinien und auf dem gesamten übrigen Kontinent nie verzeihen. Gleich hinter der Grenze steht ein amtliches Schild am Straßenrand, darauf lesen wir: „Las Malvinas son argentinas" - die Maliven (Falklandinseln) sind argentinisch.

 

Eigentlich wollten wir uns für die letzten paar hundert Kilometer bis Ushuaia mehr Zeit lassen. Wir wollten ein paar Tage am Lago Blanco verbringen und dann auch noch in Tollhuin am Lago Fagnano. Aber es treibt uns an die Südspitze der Insel, ans Ende der Straße, ans Ziel. Wir rauschen - von stürmischen Winden mal getragen, mal aufgehalten - zuerst durch kümmerliches Grasland, bald durch rotbraune Wälder. Gegen Mittag des nächsten Tages erreichen wir die südlichste Stadt des Planeten. Wir überfahren die Ortsgrenze von Ushuaia, steuern Lucy - unsere treue Lucy - durch die Calle Magellanes, biegen links ab in die Don Bosco und parken schließlich in der Calle San Martin im Herzen der Stadt. Wir sind angekommen!

 

‚Reisen ist besser als Ankommen" lautet eine meiner Lebensphilosophien (hier meine andere: „Einer geht noch!") - doch nie war Ankommen süßer als heute. Vor etwa anderthalb Jahren, genau am 15 August 2005, standen wir oben in Prudhoe Bay in Alaska nahe dem Polarmeer am nördlichen Ende einer schotterigen Straße. Damals schauten wir noch einmal Richtung Norden, bestiegen dann Lucy und rollten fortan Richtung Süden, immer weiter, immer weiter, durch karge Tundra, finstere Urwälder, staubtrockene Savannen und heiße Wüsten. Durch glitzernde Metropolen, koloniale Städte, beschauliche Dörfer und elende Slums. 15 Staaten haben wir durchquert, 126 Breitengrade überfahren und 4 Klimazonen passiert. Wir tauchten ab in Täler, die über 100 Meter unter dem Meeresspiegel lagen und erklommen Pässe 5000 Meter darüber. Wir rollten über alle erdenklichen Straßen: über 12-spurige Highways und einspurige Erdpisten, auf feinen Sandstränden und durch matschige Sümpfe, in die wir drohten hineinzurutschen. 548 Tage und rund 55000 Kilometer später erreichen wir das südliche Ende der Straße. Ab hier geht's nicht mehr viel weiter. Ein paar Kilometer noch Richtung Südwesten, dann einige kleine Inseln vor Feuerland, schließlich nur noch eiskaltes Meer, das uns von der Antarktis trennt.

 

Wir steigen aus, liegen uns lange in den Armen und schauen uns dann um: die Hauptstraße von Ushuaia als städtebauliches Juwel zu bezeichnen wäre glatt gelogen. Doch sie hat durchaus ihren Charme. Und - Zufall oder Fügung - prompt stehen wir vor einem netten, gelbgestrichenen Holzhaus das sich als feines Lokal entpuppt. Wir treten ein, setzen uns an einen Holztisch neben einem warmen Heizkörper, bestellen eine Flasche Sekt und centolla, gekochtes Königskrabbenfleisch auf Salat - eine Spezialität der Region. Ich sprudele so über vor Mitteilungsdrang, daß bald der Wirt, die Bedienung und alle, die mir zu nahe kommen, bescheid wissen über unsere Geschichte ... und sie ist ja auch wirklich gut! Das halbe Restaurant stößt mit uns an - und alle, so scheint es, tun es von Herzen!

Am Stadtrand von Ushuaia nehmen wir uns eine Cabaña mit Schlafgalerie, Kochnische, offenem Kamin und einer herrlichen Aussicht über die Stadt und den Beagle Channel. Alejandro, der freundliche Vermieter, hat in liebevoller Detailarbeit ein wunderschönes Refugium am Ende der Welt geschaffen. Er spendiert uns - nach dem ich auch ihm unserer Geschichte mitteilsfreudig unterbreitet habe - eine Flasche Wein für jeden Abend! Wir bleiben 10 Nächte. Nicht weil es so viel zu entdecken gäbe in Ushuaia (und nein, auch nicht wegen der Aussicht auf eine Gratisflasche Wein am Tag), sondern weil wir an diesem Punkt der Reise eine Zäsur setzen müssen, weil wir eine Auszeit nehmen und innehalten wollen. Zum ersten Mal seit Monaten stapeln sich keine Reiseführer und Landkarten auf unserem Tisch, sondern Photoabzüge aus Peru, Strandgut aus Mexiko und Souvenirs aus Alaska. Unser Blick ist nicht vorwärts-, sondern rückwärtsgerichtet. Wir blättern unsere Tagebücher durch und verbringen viele Stunden damit, uns gegenseitig fast vergessene Episoden ins Gedächtnis rufen („ ... und erinnerst Du Dich noch an den verdatterten Gesichtsausdruck von diesem Polizisten in Guatemala, weil ich ihn aufgefordert hatte, die Hose auszuziehen bevor er Lucy betritt ...").

 

Für ein bißchen Sightseeing bleibt dabei immer noch Zeit. Wir besuchen z.B.das alte Gefängnis der Stadt, wo nicht nur ehemalige Sträflingszellen zu besichtigen sind, sondern auch eine interessante Ausstellung über die Geschichte der Seefahrt in Feuerland. Oder das Museo del Fin del Mundo in einem der ältesten Häuser Ushuaias. Es zeigt anhand von ausgestopften Tieren, alten Fotografien, indianischen Kulturgegenständen und Schiffswrackteilen Fragmente der Natur- und Kulturgeschichte des Archipels. Erst 1860 hatte die Besiedlung der Inseln durch Weiße begonnen. Heute schätzt man, daß es zu diesem Zeitpunkt etwa 10.000 Ureinwohner auf Feuerland gab (in einer anderen Quelle lesen wir die Zahl 40.000). 1910 wurden dann nur noch ungefähr 350 gezählt. In nur 50 Jahren waren die Ureinwohner faktisch ausgerottet worden.

 

Auf einer Tafel in der kleinen Abteilung „Indigenas" des Museums lesen wir freilich, daß die Indianer keineswegs etwa durch die Gewalt der neuen Siedler umgekommen seien, sondern durch eingeschleppte Krankheiten und durch ihre Unfähigkeit, sich der neuen Kultur anzupassen. Wir stehen fassungslos da. Keine Rede davon, daß Indianer gejagt wurden wie wilde Tiere (und als solche auch gesehen wurden), keine Rede davon, daß für einen toten Indianer zeitweilig ein Pfund Sterling Kopfgeld bezahlt wurde. Die Geschichtsverdrehung zugunsten der europäischen Einwanderer in ganz Lateinamerika nimmt bisweilen geschmacklose Formen an.

Ein kleines Cafe in der Calle Maipu (der Name will mir beim besten Willen nicht einfallen) ist unser Stammladen in Ushuaia. Der holzgetäfelte ehemalige Lagerraum dient zurückkommenden Antarktisreisenden als Aufwärmdomizil und internethörigen Gringos dank WiFi als Suchtstelle. Außerdem servieren sie leckere Lachsscheiben auf selbstgebackenem Baguette, feine Weine und wunderbaren espresso corto! Wir verbringen Stunden in dem nach warmem Brot duftenden Lokal, die schwarzhaarige Bedienung lehrt uns ein Stück vom Stolz argentinischer Frauen, Astor Piazzollas Tangomusik tönt aus den Lautsprechern so bewegt wie die See auf der anderen Straßenseite - landestypische Klischees, durch und durch real!

 

Ach wie gut sie tun, diese Tage. So könnte es noch Wochen weitergehen. In einem Artikel in Spiegel-Online lese ich (natürlich im 'unserem' Cafe bei Lachsbrötchen und anschließendem Espresso): „Als Insel der Verdammten gilt Feuerland von jeher als absoluter Grenzfall für menschliche Belastbarkeit ...," Wer könnte dem an solch einem Ort zustimmen? Nun ja: Ushuaia ist zwar argentinisch, aber es ist nicht das wahre Feuerland.

Um das zu entdecken, müssen wir die Stadt verlassen. Südöstlich von ihr erreichen wir über holprige Schotterpiste die älteste Estancia der Feuerlands, Haberton. 1886 gründete der englische Einwanderer Thomas Bridges diese Schaffarm in einsamer Abgeschiedenheit. Sein Sohn Lucas machte sie berühmt durch seine Lebenserinnerungen in dem Buch „The Uttermost Part of the Earth" (leider finden wir nur die spanische Version des Buches) und noch heute wird die Estancia von Nachfahren der Familie betrieben. Wir schlendern durch die alten Holzbauten, besuchen das hauseigene Museo Acatushun, wo es eine beeindruckende Knochensammlung von Meeressäugern rund um Feuerland gibt, und besteigen ein Motorboot, das uns hinaus auf eine kleine Insel bringt, in der eine Kolonie Magellan-Pinguine die Strände bevölkert. Die putzigen Geschöpfe zeigen wenig Scheu vor uns. Im Gegenteil: als ich sie - im Sand liegend - fotografiere, nähern sich mir einige Tiere neugierig bis auf wenige Zentimeter und finden mich wahrscheinlich ebenso drollig wie ich sie. Da liege ich also am Boden, die Pinguine starren auf mich herab, und es kommt es mir so vor, als rücke das in dieser grandiosen Schöpfung die Maßstäbe allenthalben zurecht.

 

Dann fahren wir Richtung Westen in den Nationalpark Tierra del Fuego, wo die Panamericana endgültig in den sumpfigen Boden versickert. Ein Schild am Ende der Straße macht es amtlich: Aqui finaliza la Ruta Nac No 3. Wir postieren uns davor für das obligatorische Foto und wandern dann den silbrig-türkisfarbenen Lago Roca entlang bis zur chilenischen Grenze, die in dieser menschenleeren Wildnis freilich durch keinen Grenzstein zu erkennen ist. Dichte Moos-Teppiche und Sümpfe in schmutziggelber Farbe überziehen die Böden, daneben türmen sich die knorrigen Bauprojekte von Biberkolonien. Der kurze Sommer Feuerlands neigt sich dem Ende zu. Die Sonne bricht zwar durch und umflutet das Bergland mit einem kraftvollen, harten Licht - doch wärmen tut sie nicht mehr. Die Nacht an einem Gletscherfluß ist klirrend kalt.

 

Es wird Zeit, Feuerland zu verlassen - dieses Stück einsame Erde am Ende eines grandiosen Kontinents. Vor uns liegt ein langer Heimweg. Wir stehen am kalten Wasser des Beagle Chanels, schauen noch einmal Richtung Süden, besteigen dann Lucy und rollen fortan Richtung Norden ....