Mexiko City

Kein Zweifel: Mexiko City ist der falsche Ort am falscher Platz! Die älteste Hauptstadt der Neuen Welt liegt eingeschnürt von mächtigen Bergzügen auf 2200m Höhe. Einst war hier oben der Texcoco See, darauf eine Insel, auf der die Azteken Ihre Hauptstadt Tenochtitlán errichteten. In ihrer Blütezeit lebten etwa 100.000 Menschen auf der Insel und sie schufen einen Ort, von dem Ihr eigener Zerstörer Hernan Cortes schreibt: „Diese Stadt ist so groß und so schön, daß ich über sie kaum die Hälfte von dem sagen werde, was ich sagen könnte, und selbst dieses wenige ist fast unglaublich, ist sie doch schöner als Granada …“

 

Nun, das hielt ihn nicht davon ab, sie nach der Eroberung 1521 dem Erdboden gleichzumachen und darauf eine neue zu errichten, die sich ein knappes halbes Jahrtausend später zum größten Ballungsraum des Planeten entwickeln sollte.

 

Niemand weiß genau, wie viele Menschen heute im Großraum der mexikanischen Hauptstadt leben. Die meisten Schätzungen geben Einwohnerzahlen von 20 bis über 30 Millionen an (pro Tag kommen bis zu 2000 Neuankömmlinge dazu). Natürlich passen die niemals auf die Insel der Azteken, weshalb der Texcoco See im Laufe der Jahre der Einfachheit halber trockengelegt wurde. Dumm nur, daß der Boden unter der Metropole porös geblieben ist. Der Untergrund ist nur begrenzt belastbar, die Stadt ist auf Talfahrt – und das im wahrsten Sinne des Wortes: in den letzen 70 Jahren sank sie um mehr als 10 Meter nach unten! Ganze Straßenzüge versacken, überall sieht man schiefe Häuser, Risse in Fassaden und eingesunkene Bauten.

 

Doch das (wie auch die Luftverschmutzung - täglich rieseln tausende Tonnen Staub, Schmutz und Abgaswolken auf Stadt und Menschen nieder) ist das geringste Problem von Mexiko City. Die Stadt sitzt buchstäblich auf dem Trockenen. Der Wasserverbrauch ist nach statistischen Zahlen pro Kopf und Tag mit über 300 Litern doppelt so hoch wie bei uns (obwohl nur ¾ der Bevölkerung überhaupt Anschluß am öffentlichen Wasserleitungsnetz hat …). Dumm nur, daß es hier oben kein Wasser gibt. Der frühere Wasserlieferant, der Rio Lerma,  ist heute nur noch ein Rinnsal, der Texcoco See ist - s.o. -  trocken. So müssen täglich vom 150 Kilometer entfernten Stausee Presa Valle de Bravo weit über eine Milliarde Liter Wasser mit enormem Energieaufwand zunächst über 1000 Meter steil hochgepumpt werden, ehe es über die Berge, die das Tal von Mexiko umschließen, in die Hauptstadt fließen kann. „Die Stadt“, so lesen wir im Reiseführer, „die von den Azteken einmal im Wasser erbaut wurde, wird wohl irgendwann einmal wegen Wassermangel unbewohnbar werden.“

 

Diesem Moloch wollen wir uns sachte nähern (…und scheitern grandios– doch darüber später …). Rund hundert Kilometer westlich von Mexiko City steigen wir über schmale, grobgepflasterte Bergstrassen auf Höhen knapp unter 3.000 Metern. Nach unserem 7-woechigen Aufenthalt in San Miguel de Allende tut es gut, wieder unterwegs zu sein. Lucy schnurrt wie ein Kätzchen – qualmt zwar aus allen Löchern, aber wir haben gelernt, das zu ignorieren. Im kleinen Bergdorf San Luis finden wir im Garten eines Hotels einen sicheren Übernachtungsstellplatz. Die Nacht ist saukalt, das Thermometer sackt ab auf 2 Grad.

 

Früh am nächsten Morgen steigen wir noch einmal ein paar Höhenmeter auf, parken an einem Waldrand und machen uns zu Fuß hinauf in die Wälder. Das Schauspiel, das wir hier oben erleben, (und auch die dünne Luft) rauben uns den Atem:

 

Millionen und Abermillionen Monarch-Schmetterlinge schweben durch die Luft wie orange-schwarze Schneeflocken, hängen an Bäumen und Büschen und bedecken den Boden wie ein lebendiger Teppich.

 

In jedem Herbst kommen sie aus der Region der großen Seen in USA und Kanada herunter ins mexikanische Hochland geflogen und verbringen hier die Winter. Rund 4000 Kilometer legen sie dabei zurück, am Tag bis zu 130. Jetzt, Anfang März erreichen sie Geschlechtsreife und paaren sich. Männchen fliegen umher und tragen Weibchen unter sich. Das erschöpfte Männchen stirbt kurz danach - zu Tausenden überdecken tote Schmetterlinge den Waldboden. Die Weibchen fliegen Richtung Norden nach Texas, Florida oder andere Ecken im Südosten der USA. Dort legen sie Eier ab und sterben ihrerseits. Ende Mai erwächst eine neue Generation von Monarch-Faltern, die zu den großen Seen im Grenzgebiet zu Kanada fliegen, wo sich schließlich Ende August eine abermals neue Generation auf den langen Weg ins Zentrale Mexiko macht. Es braucht drei bis fünf Generationen von Schmetterlingen, um den Kreis zwischen Kanada und Mexiko zu schließen. Gegen diese Leistung verblaßt unsere Reise zum Schulausflug!

Den halben Tag verbringen wir in den Wäldern oberhalb von San Luis. Dann machen wir uns auf nach Teotihuacan, eine alte Ruinenstätte nördlich von Mexiko City. Spätestens gegen 4 Uhr Nachmittags sollten wir den dortigen Campingplatz erreicht haben. Die Strasse fällt hinab auf ca. 1800 Meter und steigt dann östlich von Zitacuaro steil auf 3150 Meter auf – Höhenrekord für Lucy. Sie meistert die Hürde souverän mit allerdings leichten Hitzewallungen.

 

Dann geht es hinunter in den brodelnden Kessel von Mexiko City. In respektvollem Abstand zur Stadt gibt es einen gebührenpflichtigen Autobahnring, der uns nach Norden bringen soll. Doch irgendwann, irgendwo verpassen wir eine Abzweigung, ein Schild, eine Auffahrt, was auch immer – bis wir den Fehler erkennen ist es zu spät: wir sind in den Schlund dieses Monsters geraten und haben hoffnungslos den Überblick verloren. Drei Uhr nachmittags ist es, der Feierabendverkehr bricht los und hat uns im Griff wie eine Würgeschlange. Wir werden nervös. Wir haben kein detailliertes Kartenmaterial, das uns weiterhelfen könnte, einzig unser Satelliten-Navigations-System zeigt uns vage an, wo wir sind. Auf dem Display taucht eine rot gekennzeichnete Strasse auf, die nach Norden führt, die wollen wir nehmen. Doch wir finden ums Verrecken keine Auffahrt und irren in kleinen Nebenstrassen umher. Das GPS sagt uns, daß wir eigentlich mitten auf dem Highway stehen müßten – nur, verdammt noch mal, da ist kein Highway!!! Statt dessen hupende VW-Käfer, gaffende Mexikaner und ein undurchdringliches Straßenlabyrinth ....!!! Himmel hilf ...!!!

 

6 Stunden später erreichen wir den Campingplatz von San Juan de Teotihuacan. Es ist bereits dunkel, unsere Nerven liegen blank und Lucy ist ganz offensichtlich auch die Lust vergangen. Sie röchelt wie ein altes Weib. Ganze 80 alptraumhafte Kilometer sind wir in diesen 6 Stunden vorwärtsgekommen. Auf stattlichen 2200 Metern Höhe haben wir einen vorläufigen Tiefpunkt unserer Reise erreicht.

 

Wir faulenzen am nächsten Vormittag im Schatten eines mächtigen Baumes, der wie die ausgewachsene Version unseres kümmerlichen Benjaminus vor dem Balkon ausschaut. Am Nachmittag nehmen wir ein Taxi zu den Ruinen.

 

Teotihuacan gilt als das bedeutendste Kulturzentrum des alten Amerikas. Vermutlich 100 v. Chr. gegründet lebten hier in seiner Blütezeit zwischen 200 und 500 n. Chr. geschätzte 200.000 Menschen auf einer Stadtfläche von 22qkm. Der überwiegende Teil der Anlage ist noch immer unerforscht und liegt unausgegraben in Umland. Doch allein die Dimensionen dessen, was wir heute besichtigen, sind überwältigend.

Am nördlichen Ende der Hauptachse der Anlage, der sogenannten Calza da de los Muertos, erhebt sich die gewaltige Mondpyramide in 45 m Höhe. Über alte Steinquader besteigen wir sie. Oben eröffnet sich uns ein herrlicher Blick über die Ruinenstadt und die sie umgebenden Berge. Doch der Star von Teotihuacan ist die Sonnenpyramide, im mittleren Bereich der Nord-Süd-Achse. Mit 200 m Seitenlänge und 70 Metern Höhe ist sie die drittgrößte Pyramide der Welt. Ihre Besteigung sparen wir uns für den frühen Abend auf, wo die Luft kühler wird.

 

Beide Pyramiden dienten in erster Linie als religiöses Zentren und Grabstätte, doch was war das für ein Volk, das solch eine gewaltige Kulturstätte schuf? Die Forschung weiß relativ wenig. Woher diese Menschen kamen, welche Sprache sie sprachen, wie ihre Gesellschaft im einzelnen strukturiert war und welches Schicksal sie letztendlich erlitten ist nach wie vor ein Rätsel. Man weiß nicht einmal, wie ihre Bewohner die Stadt nannten. Als Jahrhunderte später die Azteken hier ihr Reich gründeten und zur herrschenden Macht in Mesoamerika aufstiegen, war der Ort bereits eine verlassene Ruine. Das neue Volk jedoch war sich sicher, daß es nur überirdische Wesen sein konnten, die derartig prachtvolles errichteten, und so bekam die Stätte den Namen, den sie noch heute trägt: „Heimat der Götter“.

 

Am nächsten Morgen packen wir etwas Wäsche, Zahnbürsten und Ohrenstöpsel in einen Rucksack, schnappen Kamera und Kreditkarte und besteigen einen Bus, der uns nach Mexiko City führt. Lucy bleibt behütet auf dem sicheren Campingplatz. 30 Minuten soll die Fahrt bis zum Terminal Norte dauern, wo wir in die U-Bahn steigen können. Doch nach 10 Minuten ist erstmal Schluß. Der Bus hält auf offener Strasse, ein Uniformierter steigt ein und tastet jeden männlichen Fahrgast nach Waffen ab. Alle Fahrgäste sind sauber, nur nicht ich. Mein Schweizer Taschenmesser stellt eine nicht zu unterschätzende Gefahr dar, man nimmt es mir ab und hinterlegt es beim Fahrer. Mit einem strammen „hasta luego“ verabschiedet sich der Uniformierte und wir setzen unsere Fahrt fort.

 

Im Zentrum der Stadt finden wir unweit des Zocalo, des Hauptplatzes, ein schmuckloses, aber erstaunlich ruhiges und preiswertes Zimmer. Für drei Nachte mieten wir uns ein und – so viel vorneweg – nutzen die Zeit, um uns mit Mexiko City zu versöhnen.

Wie geht man in drei Tagen eine Stadt an, deren Angebot an Sehenswürdigkeiten durch die Epochen und Jahrhunderte schlicht überwältigend ist (150 Museen soll es hier geben, 100 Galerien und 71 Theater)? Mit einem Espresso auf der Dachterrasse des Hotel Majestic über dem Nordwesteck des Zocalo! Wir schauen hinunter auf den größten und ältesten Stadtplatz Amerikas. Seine asphaltgraue Fläche ist zwar lange nicht so pittoresk wie die des Jardin in San Miguel (keine schatten­spendenden Jacaranda-Bäume, Grünes gibt es hier nur auf den allgegenwärtigen Käfer-Taxis) , aber geschichtsträchtig ist er und ein Symbol mexikanischer Identität und Widersprüchlichkeit. Unter einer gewaltigen grün-weiß-roten Flagge tanzen Indeginas sogenannte Concheros, in denen sie die aztekische Vergangenheit beschwören. Verschmutzte Kinder in abgerissenen Klamotten betteln um ein paar Pesos, während ein paar Meter weiter aufgetakelte Snobs aus einer weißen Strechlimousine steigen.

 

Die Nordseite des Zocalo wird beherrscht von der Cathedral Metropolitana (und wieder: die größte Amerikas). 1573 wurde mit dem Bau auf den Resten eines Aztekentempels begonnen, 240 Jahre später war er endlich fertig. Durch das mächtige Kirchenschiff laufen wir merklich bergauf: Der Bau ist tief in den porösen Boden abgesackt. Der Haupteingang ist 2,5 Meter tiefer als der hintere Altarraum.

 

Gleich dahinter besichtigen wir die vergleichsweise bescheidene Ausgrabungsstätte des einst gewaltigen aztekischen Templo Mayor, der wichtigsten Zeremonialstätte des alten Tenochtitlán. Bei den Arbeiten für die Metro stieß man 1978 auf seine Mauern und fing dann sogar an, die Häuser von zwei Straßenblöcken drumherum abzutragen für weitere Grabungen. Bittere Ironie der Geschichte: zuerst wird Tenochtitlán platt gemacht für Mexiko-Stadt, dann reißt man Häuser ab für Tenochtitlán ….

So geht es weiter die nächsten Tage: Museumsbesuche (das hervorragende El Museo Nacional de Antropologia oder das Geburtshaus Frieda Kahlos), Folkloreveranstaltungen (Ballet im Palacio de Bella Arte oder Straßentänzer am Zocalo), Markttage (im charmanten Viertel Coyoacan) und zwischendurch kulinarische Entdeckungstouren in feinen Restaurants oder an fragwürdigen Imbißständen. So spannungsreich die Geschichte dieser Stadt ist, so widersprüchlich erleben wir sie in den drei Tagen unseres Aufenthalts: abstoßend und charmant, arm und glamourös, beängstigend und liebenswert. Bei aller Vitalität und Zuversicht, die Mexiko City trotz ihrer apokalyptischen Probleme auszumachen scheint,  wirkt sie bisweilen zerrissen wie die mexikanische Seele selbst. Eine Gedenktafel zum Untergang des aztekischen Tenochtitlán im heutigen Stadtteil Tlatelolco scheint diesen Eindruck zu bestätigen. Da lesen wir:

 

„Am 13. August 1521 fiel Tlatelolco, heldenhaft verteidigt von Cuauhtemoc, in die Hände von Hernan Cortes. Es war weder Triumph noch Niederlage. Es war die schmerzhafte Geburt des Mestizenvolkes, des heutigen Mexikos.“