Zwischen den Welten

Graue See so weit das Auge reicht. Eine nasse Wüste, die sich in weiter
Ferne mit einem trüben Himmel vereinigt, als wären die beiden stille
Komplizen. Dazwischen der Wind, ebenso lautlos aber ungebändigt, durch nichts aufgehalten als durch diesen kleinen, eisernen Kahn, auf dem wir uns in dieser Unendlichkeit verlieren. Ich weiß, daß unser Planet vor allem von Wasser bedeckt ist, aber ich hatte ja keine Ahnung, daß es so viel davon gibt. Man muß erst auf einem Schiff einen Ozean überqueren, um ein leises Gefühl dafür zu bekommen. Und auch dafür, wie weit weg „zuhause" ist.

Die Grande Francia der italienischen Grimaldi Gruppe ist ein sogenanntes RoRo-Schiff, ein Frachter, in dem neben ein paar Containern vor allem Autos über die Meere geschippert werden. Rund 3000 Fahrzeuge - VWs, Fiats, Mercedes Sprinter, Scania Lastwagen, CAT Planierraupen und derlei - parken im düsteren Bauch des gewaltigen Schiffes. Irgendwo dazwischen steht Lucy und mit ihr 4 weitere Wohnmobile.

 

28 Seemännern – Italiener, Rumänen und Philippinen - sorgen dafür, daß der 240 Meter lange und 38 Meter hohe Frachter mit einer durchschnittlichen Geschwindigkeit von etwa 30 Stunden­kilometern träge über den atlantischen Ozean pflügt. Unser Kapitän heißt Francesco Vultaggio. Sein Name könnte für eine Modekollektion stehen. Er ist ein kleingewachsener Italiener von gerade 37 Jahren. Was ihm an Körperwuchs fehlt, gleicht er aus durch bedächtig autoritäres Auftreten. In den ersten Tagen auf See erleben wir ihn als vermeintlich spröde, doch allmählich lernen wir seine entspannte, freundliche Seite kennen.

 

Enzo ist der Sicherheitsoffizier auf der Grande Francia. Er führt uns in jede Ecke des Frachters, bei Rettungsübungen zeigt er uns, wie wir die Schwimmwesten anzulegen haben und er erläutert in herrlich italienisch gefärbtem Englisch die Funktionsweise des Rettungsbootes („disa isa de boxa fora de fud"). Enzo ist umgeben von einem kraftvollen körpereigenen Odeur, welches in der klaustrophobischen Enge eben jenes u-bootgleichen Rettungsbootes ganz besonders satt zur Geltung kommt.

Unser Koch heißt Andrea. Er liebt Pasta (na klar) und laute Musik. Aus seiner Küche heraus schallen Technoklänge durchs gesamte Schiff. Mittags und abends bekommen wir ein 4- gängiges Menü serviert – den Plan, auf der Schiffsreise die in Chile und Argentinien hinzugewonnenen Kilos wieder loszuwerden, müssen wir streichen. Andreas kulinarische Kreationen sind reichhaltig und schmecken passabel und routiniert, gelegentlich etwas müde.

 

Gilbert ist ein netter Philippine, der sich fast rührend für unser übriges Wohlbefinden sorgt. Er kümmert sich um unsere erfreulich geräumige Kabine, deckt die Tische und serviert die Mahlzeiten. Er wäscht Geschirr, hilft in der Küche aus, spielt gelegentlich im Flur Gitarre, zeigt Mitgefühl für Seekranke und wenn wir ihn bitten würden, uns allen morgens eine halbstündige Nackenmassage zu verabreichen – ich glaube, er würde das auch noch tun. Doch darum bitten wir ihn nicht, denn Gilbert hat auch so schon einen langen Arbeitstag!

 

Wir, das sind zehn bunt zusammengewürfelte Passagiere aus Deutschland und Holland, die heimkehren von ihrer Amerikareise. Haye, Willeke, Christel, Peter, Dorothea, Klaus, Luise, Axel, Sabine und ich teilen drei Wochen lang Tisch und Schiff miteinander und darüber hinaus die Leidenschaft fürs Reisen. An langen Mahlzeiten überbieten wir uns gegenseitig im Darbieten unserer Südamerikaerlebnisse, und davon gibt es viele. Reisende sind hervorragende Geschichtenerzähler (sie gelten nicht zwingend als geduldige Zuhörer).

Wir hängen an sonnigen Tagen miteinander ab auf dem Außendeck, schauen abends zusammen „Herr der Ringe"-DVD's im Aufenthaltsraum und einige treffen sich regelmäßig zum Tischtennis- oder Tischfußballspielen. Vereinzelt bauen sich gruppendynamische Spannungen auf, die sich hinterrücks aber harmlos und in Form von gelegentlichen Augenverdreher äußern (und was im Schutz der eigenen Kabine so für Ansichten und Urteile ausgesprochen werden, wollen wir besser gar nicht wissen und es braucht uns ja auch nicht zu interessieren ...), aber: unterm Strich kommen wir ganz gut klar miteinander – und das sicherlich auch, weil der Frachter groß genug ist, um sich gegebenenfalls aus dem Weg zu gehen.

 

Die Tage auf der Grande Francia fließen gemächlich dahin wie die See um uns herum. Sie drehen sich im wesentlichen um die Mahlzeiten, dazwischen bleibt knapp Zeit fürs Joggen oder Lesen, fürs Bilderbearbeiten am Notebook oder für Kraftübungen im spärlich ausgestatteten Fitneßraum. Wir wollten ein sanftes Nach-Hause-Kommen zelebrieren, als wir beschlossen, die Reise mit einer „Kreuzfahrt" zu beenden, und der Plan scheint aufzugehen. Auf hoher See reduziert sich unsere Wahrnehmung mangels äußerer Reize auf die Erlebnisse, die hinter uns liegen und auf das, was uns zuhause erwartet. Wir bewegen uns in einem Vakuum; gleiten durch einen Korridor der Welten – zwischen Südamerika und Europa, ja doch, aber mehr noch zwischen Vergangenheit und Zukunft.

 

Manchmal scheren wir aus: 6 Häfen steuern wir zwischen Buenos Aires und Hamburg an, in zweien davon verlassen wir das Schiff für eine kurze Stadtbesichtigung.

In Rio de Janeiro/Brasilien bummeln wir durch die lärmenden Straßen in der Innenstadt, essen an der Copacabana – dem eitelsten aller Augen- und Arschstrände auf diesem Planeten - zu mittag und erklimmen nachmittags mit einer Seilbahn den Zuckerhut, von wo aus wir einen grandiosen Blick über die Stadt, ihre Strände und die sie umgebenden Hügel genießen. In Dakar/Senegal wälzen wir uns durch geschäftige Märkte und ergeben uns chancenlos den Verkaufstrategien der Stoffhändler: zwei handgewebte Decken liegen von da an auf den Betten in unserer Kabine.

 

Diese Besuche sind willkommene Abwechslung und sind doch ebenso schnell wieder vergessen, wie sie vorbei sind. Nur von Dakar bleibt uns etwas Anhaltendes in Erinnerung: dieser lautloser Ruf nach mehr Afrika ...!

 

Südlich des Äquators gleiten wir jeden Tag unter einem wolkenlosen Himmel dahin, nördlich davon verschlechtert sich das Wetter, die Temperaturen fallen, die Winde nehmen zu und manchmal regnet es. Vor der französischen Küste schaukelt unser Schiff durch hohe Wellen, die unseren Gleichgewichtssinn auf eine harte Probe stellen. „Na klasse", denken wir uns im Stillen, „willkommen in Europa". Wir kramen Pullover und lange Hosen heraus und rüsten uns für eine kalte Nordsee. Doch die zeigt sich wetterberuhigt und als wir nach 20 Tagen den ersten deutschen Hafen, Emden, ansteuern, bricht die Sonne wieder durch und taucht das Heimatland in ein geradezu liebliches Licht. Wir stehen an der Rehling und schauen durch das Fernglas auf eine aufgeräumte Welt: wir sehen Windräder, die sich wie Wächter am Ufer aufbauen, dahinter grasende Kühe auf grünen Wiesen, baumbestandene Straßen durchschneiden ein flaches, freundliches Land und darauf rollt ein Auto, das ich – ich schwöre es – noch nie zuvor gesehen habe.

Ach, und zu diesem Zeitpunkt hat sich längst Vorfreude durchgesetzt auf daheim, auf ein kühles Weißbier und ofenfrische Brez'n, auf Tagesschau am Abend und Spiegel am Montag, auf die deutsche Sprache, die ich wirklich vermißt habe, auf durchgemachte Sommernächte mit Freunden auf dem Balkon über den Dächern von München, auf das sonntägliche Telefongespräch mit Mutter und Vater, auf Musizieren mit Geschwister und Nichten und Neffen, auf den Bummel über den Viktualienmarkt und Fahren über die Autobahn, auf neue berufliche Herausforderungen, auf Radelausflüge entlang der Isar und auf ein Klo, daß wir mit niemandem – wirklich niemandem - teilen müssen! Mal ganz ehrlich, ein bißchen ist es ja auch so, daß man wegfährt, um es daheim wieder schön zu finden. Mir scheint, der Plan geht auch auf.

 

Schluß für heute. Andrea ruft zum Essen. Nur noch dies (damit hier keine Mißverständnisse aufkommen): nach der Reise ist vor der Reise!