Selten haben wir auf dieser Reise innerhalb von zwei Wochen so vieles erlebt und gibt es gleichzeitig so wenig zu erzählen. Na, mal sehen. Fangen wir mit einer netten Anekdote über Chile an: „Als Gott seine in sieben Tagen erschaffene Welt betrachtete, stellte er fest, dass noch einiges an Baumaterial übrig geblieben war: Vulkane, Urwälder, Wüsten, Fjorde, Flüsse und Eis. Er gab seinen Engeln den Auftrag, alles das hinter einem langen Gebirge zu entsorgen. Das Gebirge waren die Anden – und so entstand: Chile.“
Es ist schon ein sonderbares Land, durch das wir da unterwegs sind – allein seine Proportionen: Chiles Nord-Süd-Ausdehnung umfasst sensationelle 4300 Kilometer, mehr als die von Hammerfest nach Palermo. Im Durchschnitt ist es aber nur 180 Kilometer breit. Chilenen beschreiben ihr Land gerne als eine Insel, isoliert durch den Pazifik im Westen und die Atacama Wüste (die trockenste der Welt) im Norden. Im Osten steigen die schneebedeckten Felsmassen der Anden hinauf bis in den Himmel und an Chiles Südspitze beginnt ohnehin das Ende der Welt. Dem wollen wir uns allmählich nähern.
10 Tage Zwangsunterbrechung in Santiago haben inneren Raum geschaffen für neue Abenteuer. Wir machen uns zügig auf Richtung Süden. Sabine ist froh, aus der bakterienfreien Welt der USA wieder zurück im Leben zu sein, ich bin erleichtert, der Smogglocke Santiagos zu entkommen, und Lucy erstrahlt - frisch geölt und geschmiert, mit zurechtgebogener, polierter Chromstoßstange, reparierten Scheinwerfern und gesaugtem Innenraum - in buchstäblich neuem Glanz. Alle sind glücklich. Das Team ist wieder vereint.
Wir gleiten über eine aalglatt asphaltierte Panamericana. Die vierspurige Autobahn zieht sich als Hauptschlagader Chiles durch das ganze Land. Und sicher ist sie wie eine bayrisches Nonnenkloster: keine Guerillas, die nach Touristen zum Kidnappen Ausschau halten, keine Drogengangs, die ihr Territorium verteidigen, keine korrupten Polizisten, die um eine Spende bitten – statt dessen Notrufsäulen alle paar Kilometer. Kein wirkliches Abenteuer!
Wir durchfahren die ausgedehnten Obst- und Weinanbaugebiete Mittelchiles, die wirtschaftlich wichtigste Region des Landes – und lassen sie links liegen. Dass chilenischer Wein sensationell lecker ist, davon brauchen wir uns nach einem Jahr Reisen in Lateinamerika nicht mehr zu überzeugen. Chilenische Weinbauer haben’s aber auch gut: ihr Wein wächst in einem Klima, in dem es so gut wie nie während der Erntezeit zwischen Mitte Februar und Ende April regnet. Mehr als 250 Tage im Jahr scheint die Sonne, während die Temperaturen Dank des kühlenden Einflusses des Pazifiks moderat bleiben. Und sie profitieren gegenüber ihrer Konkurrenz von zwei weiteren entscheidenden Vorteilen: der Mehltau ist in Chile fast, die Reblaus gänzlich unbekannt. Deshalb wachsen hier noch die alten, wurzelechten Rebklone, die sonst auf der Welt nicht mehr angebaut werden können. Vielleicht liegt’s an all dem, weshalb chilenischer Wein so fantastisch ist, vielleicht schmeckt aber auch jeder Rebensaft, der bei Sonnenuntergang in freier Natur am Ufer eines stillen Wassers mit Blick auf einen schlafenden Vulkan getrunken wird, ein kleines bisschen besser.
Unterhalb der Stadt Los Angeles beginnt Chiles so genannter kleiner Süden, ein Wunderland der Seen, Berge und dichten Wälder. Mit jedem Kilometer Richtung Süden werden die Tage länger, die Temperaturen fallen. Wir schalten einen Gang zurück und rollen gemächlich durch dieses idyllische Land, das vor allem von Deutschen Auswanderern im 19 Jahrhundert besiedelte wurde. Das verrät die Architektur der Häuser: statt flache Dächer und Patios, wie bei spanischen Kolonialbauten üblich, finden wir hier Giebelhäuser und Schindeldächer. Und auch sonst rückt die Heimat ein wenig näher: Gelegentlich werden wir von den Einheimischen in Deutsch angesprochen. Im Supermarkt gibt’s Haribo Gummibärchen und im „Hotel Seehaus“ in Frutillar täglich Torta de Selva Negra, Schwarzwälder Kirschtorte.
Wir fahren jeden Tag nur ein paar Stunden und suchen uns schon bald einen Platz zum Campen. Wir bauen unser Lager an kristallklaren Seen auf, die Lago Rapel heißen oder Lago Llanquihue oder Lago Todos Los Santos. Meist blicken wir auf schneebedeckte Berge und Vulkane, die wie Wächter am gegenüberliegenden Ufer aufsteigen. Dann spazieren wir ein bisschen entlang lavageschwärzter Strände oder durch geduckte Buchenwälder. Oder wir mieten uns Kajaks und paddeln über Wasser so blau wie Tinte. Oder wir sitzen in unseren Campingstühlen, lesen ein Buch und … genau … trinken ein Glas chilenischen Chardonnay. Dazu ein paar Oliven, etwas Käse und Vollkornbrot vom deutschen Bäcker im nächsten Ort.
Das Unterwegssein hier ist so einfach und friedlich und dennoch wunderschön. Es scheint, als schließe sich ein Kreis: als wir vor beinahe 20 Monaten die Reise in Kanada begannen, folgten wir einem ähnlichen Rhythmus, durchquerten ein ähnliches Land der Seen, Berge und der kühlen Temperaturen. Dann wurde der Trip allmählich beschwerlicher und abenteuerlicher. Zwischen Mexiko und Bolivien bewegten wir uns in einer Welt von chaotischer, leidenschaftlicher Unordnung. Einen großen Teil unserer Zeit und Energie beanspruchte das Bewältigen grundlegendster, elementarster Dinge: wo finde wir Lebensmittel, wo Trinkwasser, wo einen sicheren Stellplatz für die Nacht, wo kommen wir an Bargeld ’ran, wo gibt’s Diesel und … das kosmischste aller Rätsel …: wo zur Hölle sind die Autoschlüssel? Hier in Chile - wie damals in Kanada – stellen sich uns solche Fragen nicht (mal abgesehen von letzterer). Wir verbringen die Nächte auf Campingplätzen mit Strom und heißer Dusche, trinken das Wasser aus der Leitung und sind allenfalls mit der Frage konfrontiert, ob wir den Fisch zum Abendessen im Supermarkt kaufen oder ob wir selber die Angel ins Wasser werfen. Zugegeben: das nimmt der Reise ein wenig die Würze - aber so kann ihr auch nicht mehr vieles die Suppe versalzen. Wir genießen die Tage im kleinen Süden Chiles jedenfalls sehr! Wir feiern am Ufer des Lago Villarica Heilig Abend und können uns keinen besseren Ort dazu vorstellen.
Am Vorabend vor Silvester bringt uns vom Dorf Pargua abgehend eine Fähre auf Isla Grande de Chileo. 180 Kilometer ist diese Insel lang – 180 Kilometer Regenwetter. Stürmische Pazifikwinde schicken unaufhörlich graue Wolkenmassen über das Eiland. Und sie formen jenen Insulaner, der uns aus unseren Jahren in Tasmanien so vertraut ist: ein bisschen rau, ein bisschen kauzig, ein bisschen sonderbar gekleidet, zögerlich freundlich und nach einer Weile herzlich. Wir lieben die Insel von dem Moment an, wo wir ihren Boden betreten.
Wir treffen zum vereinbarten Zeitpunkt am Hauptplatz des Inselhauptstädtchens Castro Willeke, Haye, Anke, Nils und die kleine Maya. Vor Monaten haben wir gemeinsam Kolumbien durchquert, nun wollen wir zusammen das Jahr beenden. Etwas unterhalb von Castro mieten wir uns eine geräumige Cabaña. Die Hütte steht auf dünnen Stelzen direkt am Wasser. Am späten Nachmittag, als die Ebbe kommt, beobachten wir von der Veranda aus Delfine, die im flachen Wasser jagen. Und kurz bevor es dunkel wird, bricht tatsächlich die Sonne zwischen den Wolken hervor und taucht das Land in ein goldenes Licht.
Wir verbringen in vertrauter Runde eine unspektakuläre Silvesternacht. Kein Feuerwerk, keine laute Musik, vielleicht ein bisschen zu viel Wein – ein netter, geselliger Ausgang eines für alle aufregenden Jahres. Doch irgendwie lässt sich der harmonische Geist von Kolumbien nicht aufs Neue beleben. Schnell löst sich die Runde in den nächsten Tagen wieder auf. Anke und Nils sowie Haye und Willeke ziehen bald – und in einigem Abstand zueinander – weiter, wir entschließen uns, noch einige Zeit länger in der schönen Cabaña zu bleiben.
Das Wetter meint es gut mit uns. Mit jedem Tag setzt sich ein bisschen mehr die Sonne durch. Wir reaktivieren den Roller und düsen damit über das Eiland; vorbei an buntbemalte, schindelgedeckte Häuser, vorbei an Buchten, in denen kleine Fischerboote bei Ebbe auf Grund laufen, vorbei an alte, wunderschöne Holzkirchen, einige bereits von den Jesuiten im 17. Jahrhundert erbaut.
Am Wochenende besuchen wir außerhalb des kleinen Dorfes Chonchi ein Rodeo. In einer kleinen Arena, in der nur wenig hundert Menschen Platz finden, sitzen wir zwischen Fischern und Bauern auf einfachen Holzbänken, schauen den Caballeros bei ihren Wettkämpfen zu - und verstehen nicht so recht die Regeln. Ein Getränkeverkäufer, der mit seinem Bauchladen durch die Reihen zieht, erklärt sie uns: Anders als beim nordamerikanischen Rodeo geht es hier nicht darum, auf Wildpferden und Bullen zu reiten, sondern Geschicklichkeit und Dressur zu beweisen. Zwei Reiter müssen versuchen, einen aufgeputschten Stier nur mit dem Pferd, ohne Peitsche oder Lasso, an einen bestimmten Punkt in der Arena zu treiben. Während der eine das Tier nach vorne jagt, muss es der andere langsam schräg an die festgelegte Stelle drängen – alles im Galopp.
Dabei kommt es vor allem auf die Haltung an. Es gibt Punkte für Stil und Aussehen. Der breitkrempige Hut darf zum Beispiel nicht herunterfallen, das Hemd und der Poncho dürfen nicht verdrecken, die Stiefel werden vorher gewienert und die Sporen poliert. Auch darf nicht brutal mit den Pferden oder dem Stier umgegangen werden – Eleganz wird mit Pluspunkten belohnt.
Was für eine geradezu kultivierte Veranstaltung verglichen mit den gewalttätigen Kämpfen, wie wir sie in Nordamerika oder Australien erlebt haben; wo Stiere und Pferde durch enge Gurte, die ihnen die Genitalien schmerzhaft abbinden, wild gemacht werden und wo die Reiter nicht selten auf einer Bahre herausgetragen werden muss. Dies hier ist ein harmloses, eitles, friedliches Dorffest. Natürlich wird auch hier ein Macho zelebriert (keine Frau sitzt auf einem Pferd), aber das in chilenisch gesitteter Art und Weise. Familien packen auf den Rängen ihre Picknickbrote aus, Jugendliche sitzen auf Holzzäunen und interessieren sich mehr fürs andere Geschlecht als für die Show, Kinder toben zwischen Verkaufständen, wo Hüte, Stiefel und Sporen wie von mittelalterlichen Ritterrüstungen angeboten werden. Aus scheppernden Lautsprechern tönen melancholische Latinoklänge, die Stimmung in der Arena ist nicht aufgeheizter als die bei einer Siemens Vollversammlung. Chilenen haben wenig von dem extrovertierten Enthusiasmus anderer lateinamerikanischer Völker. Sie gelten als reserviert – als die Preußen Südamerikas eben.
Am Abend sitzen wir auf unserer Veranda über dem Wasser und halten nach Delfinen Ausschau. Die lassen sich heute nicht Blicken. Ein Fischer rudert an unserer Hütte vorbei. Wir grüssen ihn mit einem „ola“, er winkt uns freundlich zu. Kaum ist die Sonne hinter die Hügel abgetaucht, wird die Luft bitterkalt. Wir ziehen uns in unsere Cabaña zurück, entfachen im Ofen ein Feuer, kochen einen Tee und schauen uns im Fernsehen „Cast away“ an, in Englisch mit spanischen Untertiteln: Tom Hanks landet nach einem Flugzeugabsturz auf einer einsamen Insel und freundet sich mit einem Volleyball an. Während der Film läuft, machen wir eine Tüte Haribo Gummibärchen alle …
… wie gesagt: es war auch schon beschwerlicher, das Reisen!