Es sind immer wiederkehrende Rituale, die dem Unterwegssein einen Hauch von „Normalität" und „Alltäglichkeit" verschaffen: unser Aufbau des Lagers am Abend z.B. läuft nach einemeingespielten Muster ab, ebenso der Abbau am nächsten Morgen. Das ist gut so und wichtig aus zweierlei Gründen: erstens erleichtert es das Reisen ungemein (die ganze Auf- und Abbauprozedur erledigt sich in null Komma nix). Zweitens stellen wir fest, daß - gerade weil es ja auf solch einer Reise keinen Alltag gibt - wir gerne an solche routinierten Abläufe festhalten. Sie bilden in einer ständig wechselnden, fremden Umgebung quasi das vertraute, verläßliche Element. Unser Frühstück folgt solch einem Ritual:
Ich schäle mich morgens bei Sonnenaufgang als erster aus unserem Alkoven. Sabine bleibt im Bett, schiebt sich alle vorhandenen Kissen hinter den Rücken und liest ein paar Seiten. Weil derbegehbare Raum zwischen Tisch und Kochzeile sehr beengt ist, kann immer nur einer da herumwerkeln. Fürs Frühstück bin ich zuständig: koche für Sabine einen Tee, mir einen Kaffee, bereite Müsli mitfrischem Obst und Nüssen zu und schnapp mir dann Kaffee, Müsli, Karte und Reiseführer und verdrück mich – wenn das Wetter es zuläßt, was meistens der Fall ist – nach draußen. Die erste halbeStunde des Tages braucht jeder von uns für sich alleine. Solche Momente des „Sich-aus-dem-Weg-Gehens" sind wichtig. Immerhin verbringen wir Tag und Nacht zusammen und teilen eine kleine Wohnkabinevon nichteinmal 7 Quadratmetern miteinander. Dieser Umstand erfordert Lust auf Nähe ebenso wie respektvolle, wohldosierte Distanz, und die pflegen wir u.a. beim Frühstück. Irgendwann höre ichdann Sabine in der Wohnkabine mit dem Geschirr klappern, und das ist das sichere Signal für mich, draußen alles Klarschiff zu machen: Stühle und Hängmatte verstauen, Gas zudrehen, Strom abhängen,Ölstand und Wasser checken und dem Nachbar ein herzliches „good morning" zurufen. Dann öffnet sich die Tür von Lucy,Sabine schreitet die Treppe hinab, so aufregend wie Scarlett O'Hara in „Vom Winde verweht". Meinem Nachbarn und mir verschlägt's die Stimme ... und der Tag kann beginnen:
Von San Francisco aus fahren wir nach Osten überden kurvigen Highway #120. Die Straße windet sich sachte von Meereshöhe hinauf in die Sierra Nevada auf über 2000 Metern. Am Valley View Lookout eröffnet sich uns ein fantastischer Blickhinunter in Yosemite Tal. Im Kernland des gleichnamigen National Parks verbringen wir die nächsten beiden Nächte. Wir durchwandern einen Naturpark, dessen herbstliche Farben zu explodieren scheinen und besteigen felsige Bergformationen, über die sich malerische Wasserfälle hinabstürzen. Was für eine üppige, verschwenderische Szenerie.
Abends sitzen wir am Lagerfeuer in einem lichten Wald. Um uns herum steigen senkrecht die Felswände auf. Kalt ist es, der Winter hat die Höhenlagen längst erreicht. Ein hungriger Coyote schleichtvorsichtig an uns vorbei, später wandert eine Schwarzbärin mit ihrem jungen durch das Lager. In der Nacht hören wir den Herbstwind durch die Blätter rauschen, das Jaulen der Coyoten – und denNachbarn neben uns im Zelt Schnarchen: archaische Klänge!
Der Tioga Paß nördlich des Tales bringt uns auf Höhen von über 3000 Metern. Ab 2.000 Meter hinterläßt Lucy eine beeindruckende schwarze Rauchwolke, ab 2.500 Meter protestiert sie mit lautstarkem Nageln, bei 3.000 Meter röchelt sie nur noch mühsam vor sich hin. Doch sie meistert die Hürde respektvoll, ihre Zuverlässigkeit übertrifft all unsere Erwartungen (und über die 4.000er der Anden wirdsie irgendwie schon auch kommen ...!). Oben angekommen spazieren wir bei eisigen Temperaturen aber herrlichem Sonnenschein über schneebedeckte Wiesen entlang schmaler Bachläufe. In derdarauffolgenden Nacht, erfahren wir später, wird es hier oben einen heftigen Schneesturm geben, die Passstraße wird am nächsten Morgengesperrt und bleibt es bis zum kommenden Mai. Wir sind für dieses Jahr sozusagen die letzten, die den Tioga Paß überqueren.
Am Osthang der Sierra Nevada ändert sich innerhalb weniger Kilometer die Natur dramatisch: Waren wir eben noch von üppigen herbstlichen Farben umgeben, so tauchen wir jetzt in karges Buschland ein. Noch einmal geht es über einen Höhenzug auf 2.000 Meter hoch, dann stürzt die Straße hinab ins Death Valley, auf bis zu unter 80 Meter unter Meereshöhe. Gestern noch ergossen sich neben uns die Wasser des Vernal Falls in die Tiefe, heute sind wir in der Wüste!
Das Death Valley ist der heißeste, trockenste und tiefste Flecken Nordamerikas. Ein karges, weites Tal, eingeschnürt von Bergmassiven, die kaum eine Regenwolke überwindet. Stein, Geröll,kümmerlicher, flacher Busch, einige Sanddünen und Salzseen formen eine rauhe Urlandschaft. Wir sind wie verzaubert. Wir lieben Wüsten. Unsere intensivsten Reiseerlebnisse hatten wir in Wüsten, undauch hier stellt sich wieder jener Zustand ein, der – wie jede Liebe – ebenso irrational ist wie schwierig zu beschreiben: Es scheint so, als kämen wir uns selbst am nächsten, je reduzierter undminimalistischer sich unsere Umgebung darstellt. Wo nichts mehr ist als karges, weites Land und endloser, wolkenfreier Himmel, versperrt auch nichts mehr den Blick aufs wesentliche: die Begegnung mit Dir selbst. Nirgendwo erleben wir uns und das Reisen intensiver als in Wüsten oder wüstenähnlichen Landschaften: in der weiten Tundra Alaskas, in den Sanddünen der australischen Simpson Desert, in der nördlichen Sahara, und nun wieder im Death Valley.
Drei intensive Tage und Nächte verbringen wir im Tal. Um diese Jahreszeit - Ende Oktober - herrschen tagsüber angenehme 20°/C. Nachts bleibt es erstaunlich mild. Untypisch für ein Wüste, aber der Ring von steil aufragenden, bis über 3000 Meter hohen Bergmassiven um das unter dem Meeresspiegel liegende Tal herum wirkt wie eine Isolierung und hält die warme Luft am Boden. Wir wandern durch schroffe Canyons und über ausgedehnte Sanddünen und versuchen, über rauhe Piste den „Race-Track" zu erreichen - eine ausgetrocknete Ebene, in der Felsblöcke wie von magischer Kraft über den gerissenen Boden „wandern"- aber der Weg ist zuholprig, das wollen wir unserer alten Lucy nicht zumuten. Immerhin soll sie uns noch bis nach Feuerland bringen. Nach einer Meile kehren wir wieder um.
Kauzigen Menschen begegnen wir: Laura-Belle und Bob zum Beispiel, ein charmantes, altes Ehepaar im wenig jüngeren Pickup. Sie sind vom über 200 km entfernten Bishop angereist, nur um einen Tag amPool von Stovepipe Well zu verbringen. Die Tagesnutzung dort kostet zwei Dollar - so billig kommen sie zuhause nirgends in ein Schwimmbecken. Wilder Westen eben!
Über den Ostausgang verlassen wir Death Valley und stürzen erneut ab, diesmal nicht in geologische, sondern lasterhafte Abgründe: wir erreichen nach nichteinmal 3 Stunden Fahrt die blasphemische Glitzerwelt Las Vegas – es ist, als betreten wir eine andere Galaxie!
Mitten in der trockenen Mojave Wüste breitetsich die größte denkbare Ballung von Casinos, Showrooms, Bordellen und Gipskulissen auf diesem Planeten aus. Entlang des weltberühmten Boulevards „The Strip" reihen sich gigantische Casinohotels aneinander, die sich gegenseitig überbieten in bombastischer Maßlosigkeit: Im Treassure Island versinken halbstündlich Piratenschiffe, im Mirage bricht zeitgleich ein Vulkan aus, das Bellagio setztdem eine gigantische Wasserfontainen-Show entgegen und im Venetian rudern Gondoliere im ersten Stock des Shopping Centers über einen künstlichen Canale Grande. Nur zur Erinnerung: wir befinden uns in einer Wüste!
Um zumindest einen gewissen Anstand zu wahren, mieten wir uns im Aladin ein: immerhin sind es arabische – also wüstennahe - Themen, denen sich dieses Casino-Hotel mit aufwendiger Dekoration widmet. Das Zimmer ist riesig, die Spielhalle gewaltig und das dazugehörige Shopping Center im Stil eines marokkanischen Souks überwältigend. Wir „besichtigen" alle großen Themenhotels des „Strips" (den geschrumpften Eiffelturm im „Paris - Las Vegas", den überdachten Markusplatz im „Venetian", den Südseestrand im „Mandalay Bay", dampfende Kanaldeckel in der Lobby des „New York - New York"), wirspielen an Automaten Poker (30 Dollar Einsatz, 80 Dollar Ausbeute!), genießen in „Treassure Island" die besten Pasta seit Reisebeginn vor fast einem halben Jahr und bei uns im „Aladin" gibt's in einem kleinen Cafe vor einem überdachten Teich (über den sich halbstündlich ein Gewitter ergießt) einen Espresso, der mir die Schuhsohlen hochklappen läßt. Wir sind begeistert von der Show „Mystère"des „Cirque du Soleil", die wir uns im Treassure Island anschauen und sitzen abends an der Bar vom „Paris - Las Vegas" und nippen an einem Cognac, zu dem uns die Bedienung Eiswürfel anbietet ...! Auf der Straße zurück ins Hotel wanken uns fettleibige Spieler mit halbvoller Whiskyflasche entgegen und Latinos drücken uns Stapelweise Bildkarten von Huren in die Hand, die sich für 35 $ die Stunde anbieten. Las Vegas setzt auf Maßlosigkeit in jeder Hinsicht. Es ist faszinierend und ekelhaft und spektakulär und ordinär. Es ist herrlich unmoralisch und gleichzeitig uramerikanisch, ... ein ebenso verführerischer, wie unerträglicher Ort!
Nach drei Nächten in der Stadt nehmen wir erstaunt eine gewisse Suchtwirkung war. Es wird höchste Zeit, diesem Sog zu entkommen. Mit einem anständigen „hang-over" ziehen wir weiter Richtung Osten– in ein Land, dessen gewaltige und reale Naturkulisse Las Vegas als das verhöhnt, was es vor allem ist – eine grandiose Fälschung. Wir erreichen das Canyon Land!