Buenos Aires soll europäischer sein als jede andere Stadt in Südamerika. Das wollen wir doch mal sehen. Ihre Zahlen sprechen jedenfalls eine andere Sprache:
13 Millionen Einwohner einschließlich der Außenbezirke, 18.000 Autobusse (Himmel hilf!), 50.000 Taxis, 190 Theater, 129 Museen, 0 Campingplätze. Da allerdings widerspricht unser Reiseführer: der schickt uns entlang der Ruta 210, die sich vier- bis achtspurig (so genau ist das auf den Strassen Buenos Aires nicht auszumachen) durch schäbige Vororte windet, nach Lomas de Zamora, 15 Kilometer südlich des Stadtzentrums. Dort soll es den Autocamp Balenario geben.
Kurz vor Dunkelheit erreichen wir die schmucklose Vorstadt und finden nichts, was auf einen Campingplatz hindeutet. An einer roten Ampel steht neben uns ein aufgemotzter Landrover (das allein ist ungewöhnlich - nicht der Landrover an sich, sondern die Tatsache, daß er an einer roten Ampel steht. Unsere Erfahrungen auf den letzten 50 Kilometern ist nämlich die, daß rote Ampeln hier allenfalls als schmückende Straßendekoration wahrgenommen werden …). Wir kurbeln die Scheibe herunter und fragen den jungen Fahrer, wo der Autocamping Balenario sei. So etwas gäbe es hier nicht, antwortet er und meint, wir sollten hinter der Ampel rechts ’ranfahren. Das tun wir und lernen so den netten Pedro kennen, der eigentlich in der Pampa lebt, aber während der Osterfeiertage mit seiner Frau auf Familienbesuch in Lomas des Zamora ist. Er ist begeistert von Lucy (deshalb stand er überhaupt an der Ampel) und will uns helfen, einen sicheren Stellplatz für die Nacht zu finden. Er telefoniert übers Handy mit der halben Stadt, steigt dann in seinen Wagen und meint: „Folgt mir!“
Die nächste Stunde irren wir über kopfsteingepflasterte Nebenstrassen und dunkle Seitengassen, halten mehrmals an, Pedro zückt immer wieder sein Handy – einen Stellplatz finden wir nicht. Stockfinster ist es inzwischen und irgendwann enden wir vor dem Haus von Pedros Schwiegervater, der uns zusammen mit seiner Tochter am Gartentor erwartet. Wir könnten auf der Straße parken, hier sei es sicher und ruhig und den Abend verbringen wir alle gemeinsam in seinem Haus, schlägt er vor.
Da sitzen wir dann bis tief in die Nacht bei Rotwein und Empanadas – Pedro, sein Frau Moira, sein Schwiegervater Kusi und Freundin Anabelle – und wir reden über Buenos Aires, über den Reichtum der Stadt und die Armut ihrer Bewohner.
Es gab eine Zeit, da war Argentinien Mitglied im Club der wohlhabendsten Länder auf diesem Planeten und Buenos Aires gehörte zu den teuersten Städten. Ende der Neunziger rutschte das Land in die schlimmste Wirtschaftskrise seiner Geschichte. Der Peso, der an den amerikanischen Dollar gekoppelt war, wurde freigegeben und verlor in der Folge rapide an Wert. Quasi über Nacht rutschte rund die Hälfte der Bevölkerung Argentiniens unter die Armutsgrenze, gehörte das Land zur Liga der dritten Welt. Kusi, unser Gastgeber, spricht mit großem Ernst über diese Katastrophe und die letzten Jahre. Er erzählt, wie die bescheidene Rente seiner Mutter in wenigen Tagen 2/3 ihrer Kaufkraft verlor und sie - ebenso wie Millionen andere Rentner - noch immer nicht wüßte, wie sie über die Runden kommen solle.
Erst langsam erhole sich das Land von diesem Zusammenbruch, meint er, und dann plötzlich – um den Abend nicht in Trübsal abstürzen zu lassen - steht er auf, holt eine Taschenlampe und führt uns hinaus in seinen Garten, wo er einen 57er Chevy Truck stehen hat und einen wunderschönen alten Willys Jeep. Eines Tages, sagt er stolz, wenn er mal wieder etwas Geld übrig habe, werde er beide restaurieren … (darin unterscheidet sich ein Argentinier von einem Deutschen. Die Gegenwart des einen mag noch so trist sein, er schaut hoffnungsvoll in die Zukunft, die des anderen mag noch so sorgloses sein, für die Zukunft sieht er schwarz …).
Am nächsten Vormittag fahren wir über die 125 Meter breite Avenida 9 de Julio hinein ins Herz der Stadt. Mittendrin, nur eine Straße parallel zu diesem anmaßenden Boulevard, beziehen wir in einem kleinen Hotel ein schäbiges Zimmer, das wir bereits in Ushuaia übers Netz buchten: Wasserflecken an den Wänden, ein grausam weiches Bett, fleckiger Teppich, speckige Vorhänge, die, wenn wir sie öffnen, den Blick freigeben auf eine graue Brandschutzmauer ein paar Meter gegenüber. Beim Duschen setzen wir regelmäßig das komplette Bad unter Wasser und das flimmernde Fernsehbild läßt allenfalls ahnen, was da gerade für ein Programm läuft. Aber eine kleine Kochnische hat das Zimmer, Lucy steht sicher auf einem Parkplatz im Hof und wir laufen nur ein paar Schritte und sind mitten im Geschehen der Stadt.
In 10 Tagen läuft die MS Grande Francia aus dem Hafen aus. Der Frachter der Grimaldi Gruppe wird uns und Lucy in einer mehr als dreiwöchigen Atlantiküberquerung zurück nach Deutschland bringen. 10 Tage haben wir Zeit für den notwendigen Behördenlauf, 10 Nächte, um Buenos Aires zu erkunden. Ersteres erledigt sich zu unserem Erstaunen nach einem halbstündigen Gespräch mit der netten Ines von der Schiffsagentur: da wir selber mit an Bord gehen, müssen wir weder die Zollbehörde vorher aufsuchen, noch die Immigration, wir müssen uns durch keinen unverständlichen, komplizierten Papierkram wühlen und keine Beamten bestechen. Wir sollen am Tag der Abreise einfach vorfahren, fertig! Ach wie wunderbar simpel! Wir sind halt nicht mehr in Panama und auch nicht mehr in Kolumbien …!
Wenden wir uns also um so gründlicher Zweiterem zu: Le Corbusier schrieb über Buenos Aires, sie sei „eine Stadt im Irrtum, die keinen neuen Geist besitzt und keinen alten", weil sie europäisch sein möchte und deswegen nie in Amerika angekommen ist.
Über die Florida, die längste Fußgängerzone der Stadt, flanieren wir durch eine Konsumschneise, die mit Paris verglichen werden will oder mit London. Prachtvolle Bauten aus dem Beginn des 20. Jahrhunderts - ergraut vom Qualm, Dunst und Ruß der Zeiten - erzählen von großer Vergangenheit und derer Vergänglichkeit.
An der Plaza de Mayo betreten wir den politischen Nabel Argentiniens. Hier wurde die Unabhängigkeit von Spanien verkündet, hier gab Peron seine Regierungsentscheidungen bekannt, bejubelten 1982 die Porteños - wie sich die Bewohner der Stadt nennen - die Falklandinvasion der Militärs und 1983 die Rückkehr zur Demokratie. Hier trifft sich noch immer jeden Donnerstag die bekannteste Menschenrechtsgruppe Argentiniens, die Mütter der Plaza de Mayo, die – weiße Kopftücher tragend – Aufklärung verlangen über das Schicksal ihrer Söhne und Ehemänner. Während der Militärdiktatur zwischen 1976 und 1983 „verschwanden“ 30.000 Menschen in den Folterzentren des Regimes.
An der Plaza de la Republica bestaunen wir den 67 Meter hohen Obelisken, eine schmucklose, steinerne Stele, die nicht nur das Zentrum Buenos Aires sein will sondern das von ganz Argentinien. Unweit davon versperren uns Bauzäune den Zugang zum Teatro Colón, ein klassizistischer Koloß mit dreitausend Plätzen und sieben Rängen.
Wir haken ein beachtliches touristisches Pflichtprogramm in Buenos Aires ab, doch verzaubern tut uns die Stadt dabei nicht. Das geschieht woanders, allmählicher, während stillerer Momente. Beim Espresso Schlürfen in einem der zahllosen Eckcafes etwa oder beim Schmökern in Trödelläden im Stadtteil San Telmo, beim Bummeln in baumbestandenen Gassen in Palermo und … ach ja … an rotweinvernebelten Abenden in düsteren Tango Bars. Da sitzen wir an wackeligen Bistrotischen vor einer brüchigen Holzbühne, auf der elegant gekleidete Akteure nicht weniger als ihre melancholische Seele bloßlegen.
Was wäre Buenos Aires ohne den Tango? Einst war er die Musik der armen Vorstädte, der Hafenkneipen und Bordelle in La Boca, schwermütig und alles andere als sittsam. Der Tango ist „ein trauriger Gedanke, den man auch Tanzen kann“, schrieb der Komponist Enrique Santos Discepolo. Das ist wahr, aber das mindestens ebenso: "Tango ist der vertikale Ausdruck eines horizontalen Verlangens." George Bernhard Shaw soll diesen Satz geschrieben haben.
Sonntags am hellichten Tag tanzen sie in den gepflasterten Straßen von San Telmo - Männer tadellos mit Anzug und geliertem Haar, Frauen hochhackig und gelegentlich hochbetagt. Sie bewegen sich mit lasziver Langsamkeit und Zärtlichkeit und - trotz des schweren Ernstes des Tangos - mit Leichtigkeit. Wir stehen an einer Hauswand gelehnt und beobachten lange das bunte Treiben um uns herum - Tänzer, Sänger, Musiker, Marionettenspieler, Trödler, Einheimische, die ihren Mate schlürfen, Touristen, die auf ein Schnäppchen hoffen, Polizisten in schußsicheren Westen, Taschendiebe, Bettler.
Diese Bühne ist so anders als das übrige Lateinamerika – Europa ist sie nicht! Hier herrscht zwar kein resignierter Ernst wie im Andenhochland und auch keine karibische Hemmungslosigkeit wie in Kolumbien, keine indigene Spiritualität wie in Guatemala und kein pubertierendes Machotum wie in Mexiko – aber dennoch paßt San Telmo wie selbstverständlich in die sinnliche Welt dieses liebenswerten, chaotischen Kontinents, den wir seit fast anderthalb Jahren bereisen - und den wir in wenigen Tagen verlassen werden. An diesem Sonntag nachmittag, so scheint es, fügt sich das letzte Puzzelteil ein in ein Bild, das uns beschäftigt hält, seit wir im Dezember vorletzten Jahres die Grenze nach Mexiko überschritten haben. Es ist, als verabschiedete uns das Land mit einer heiteren, schwermütigen Show, als baute es uns eine Brücke zwischen Amerika und Europa – und das aus reiner Poesie.
Da stehen wir also, staunen, lächeln und lauschen mit allen Sinnen. Und wir begreifen: jede gespielte Melodie, jedes gesungene Lied, jedes vollführte Kunststück und jeder dargebrachte Tanz ist allein uns bestimmt und hat nur einen Titel: „nunca olviden!“ – „Vergeßt nie!“