Ankunft gegen 17.00 Uhr am Flughafen Newark in New Jersey, 26 Kilometer süd-westlich von Manhattan. Im Flughafen gibt's ein Starbucks coffee-shop. Na prima, denk ich. Ein schneller „doppio- (tschuldigung: „double-) espresso", bevor wir ins Taxi nach Manhattan steigen, kann nicht schaden. Das Latino-Mädchen hinterm Tresen mit verkaufsfördernder kaffeebrauner Haut meint es gut, will einen Deckel auf den Becher pressen. „Nicht nötig", sage ich ihr, „ich werd ihn gleich trinken." Worauf ihr Lächeln gefriert und sie mich mit todernster Miene und strengem Ton aufklärt: das muß sie tun, denn der Kaffee ist heiß, ich könnte ihn verschütten, könnte mich verbrühen und Starbucks verklagen .... Welcome to the United States of America!
Der Taxifahrer ist Afro-Amerikaner mit versifftem Chevy und coolen Gebärden. Nur bei der kleinsten Verkehrsstockung hyperventiliert er. Es ist Freitag Nachmittag, wir finden, daß der Verkehr für eine Achtmillionenmetropole erstaunlich flüssig läuft - unser Taxifahrer sieht das offensichtlich anders und steht kurz vor dem Kollaps. Er hat eindeutig den falschen Job. Auf zwölfspurigen Highways nähern wir uns der Insel. Der Lincoln-Tunnel verschlingt uns auf New Jersey Seite und spukt uns in die Schluchten Manhattans wieder aus. 34. Straße Ecke Broadway endet die Fahrt. Aus den mit unserem schnell atmenden „cab-driver" vereinbarten 47$ werden am Ende 65 - Mautgebühren, Steuern und einen Hyperventilationszuschlag hatten wir natürlich nicht bedacht. Egal: wir sind angekommen!
Das Appartement wäre eigentlich ganz ok: großzügig bemessenes Doppelbett, kleine Kochecke, akzeptables Badezimmer, gigantischer Fernseher mit 96 Programmen und Highspeed-Internet-Anschluß. Aber düster ist es. Wir sind im dritten Stock untergebracht, das Zimmer zeigt Richtung Innenhof. Der ist etwa so klein wie ein Badehandtuch und eingeschnürt vom 28 Stockwerke hohen Herald Building. Da hat Tageslicht keine Chance. Aber hey: wir sind in New York und nicht im Ostallgäu, ist also ok. Und: wir wollen die Tage ja nicht hier verbringen, sondern im Rest der Stadt. Also ausgepackt, etwas eingerichtet, abends noch schnell ein unspektakuläres Essen bei einem Chinesen um die Ecke und dann erstmal schlafen!
Am nächsten Tag starten wir unser 7-tägiges New York Programm, und das sieht einiges vor: Central Park, Ellis Island, Freiheitsstatue, Ground Zero, Museum of Modern Art, Broadway Musical, Empire State Building, Soho, Greenwich Village, Wachsfigurenkabinett, B&H Shop (Insider verstehen: dafür ist ein halber Tag eingeplant) und natürlich: einfach Umherbummeln, Shoppen, Essen gehen, sich treiben lassen und diese gigantische Stadt aufsaugen.
Doch nicht wir saugen die Stadt auf, sie saugt eher uns auf. Sie vereinnahmt an jedem Tag all unsere Sinne, wir eilen ihren Verführungen hinterher und sie ist uns immer einen Schritt voraus. Sie pulsiert mit einer Geschwindigkeit, die unseren mitteleuropäischen Rhythmus bei weitem übertrifft. Und sie pflegt die Maßlosigkeit als übergeordnete Tugend: Straßen, Häuser, Gebärden. Alles maßlos, alles nach außen gerichtet. Diese Stadt ist eine einzige riesige Bühne, auf der alles und jeder mit viel Theatralik und aufwendiger Requisite sich in Szene setzt. Herrlich!
Etwas befremdlich für uns ist die all umgreifende Angst nach dem 11. September. Um z.B. eine harmlose, halbgefüllte Fähre nach Ellis Island zu nehmen, müssen wir vorher durch eine Sicherheitsschleuse, müssen unsere Taschen leeren, Gürtel ausziehen und eine Leibesvisitation über uns ergehen lassen. Die gleiche Prozedur im Empire State Building. Demnächst wird man wohl auch noch bei jedem harmlosen Touristen aus North Dakota eine Darmspiegelung durchführen, um ja auszuschließen, daß er eine Pinzette mit sich führt, mit der er das Gebäude zum Einsturz bringt oder das Schiff versenkt. Wir waren am Ground Zero, und die Lücke da, wo vorher das World Trade Center stand, löste Beklemmung bei uns aus und tiefe Betroffenheit. Doch bei allem Verständnis für das Trauma von nine/eleven erscheint uns diese Hysterie ebenso maßlos wie überflüssig. Damit überwinde ich nicht den Schock, sondern halte ihn am Leben.
Und noch etwas fällt auf: für jeden Schritt, den ein New Yorker tut, gibt es ein Gesetz, das vorschreibt, wie er ihn zu begehen hat – und die Höhe des Strafmaßes wird gleich mitgeliefert. Ein Beispiel: daß im Theater das Handy ausgeschaltet wird, ist auf dem Rest des Planeten eine Frage des Anstandes. In New York schreibt das ein Gesetzt vor. Und auf dem Programmheft (!) erfährt man auch gleich die Höhe des Strafmaßes bei Mißachtung: 50$.
Die Woche in New York hinterläßt Spuren: Blasen an den Füßen, vollgeschriebenes Tagebuch und bleibende Erinnerung. Die letzte nach sieben aufregenden Tagen verdanken wir wieder einer nicht ganz gewöhnliche Taxifahrt: Mit unserem gesamten Gepäck stehen wir vor dem Herald Building und versuchen ein „Yellow Cab" zu bekommen, was - trotz 12.000 lizenzierter Taxis in dieser Stadt – gelegentlich nicht so leicht ist. Schließlich hält ein Wagen, ich nenne unser Ziel – Tappan auf der anderen Seite des Hudsons, die 9 West Richtung Nord etwa 45 Minuten entfernt – der Fahrer schaut mich mit einem dumpfen Gesichtsausdruck an, der eindeutig signalisiert: damit bin ich überfordert. Gut, das wir das Gepäck noch nicht in den Kofferraum gehievt haben.
Kurz darauf hält Keilash aus Bangladesh. Die Natur hat ihn nicht mit beeindruckender Größe beschenkt, weshalb er kaum übers Lenkrad schauen kann, das genannte Ziel kennt er auch nicht, aber er meint: „Hopp in, we'll find it!" Wir also Gepäck hinten verstaut, Sabine setzt sich auf den Rücksitz, mich bittet Keilash neben sich, und drückt mir gleich sämtliche zerknitterten Karten und verfleckten Straßenpläne, die in seinem Wagen aufzufinden sind, in die Hand: ich soll ihn führen. Na schön: in Manhattan kennt er sich aus. Wir müssen zur George Washington Bridge. Der Verkehr ist zäh, so hab ich Zeit, mich etwas in die Karten zu vertiefen und mit Keilash ein nettes Gespräch zu führen. Seit 11 Jahren ist er in New York, wohnt im Stadtteil Queens, weil da die Mieten billiger sind, fährt von morgens fünf bis abends fünf Taxi, hat eine Frau und eine neun Monate junge Tochter und gelegentlich Heimweh nach Bangladesh.
Warum ich das erzähle? Weil Keilashs Geschichte für mich eine klassische New Yorker Geschichte ist. Hier leben acht Millionen Menschen (im Metro-Bereich sind es gar 18 Millionen) aus aller Welt und für jeden hat diese unglaubliche Stadt eine Nische frei, jeder findet hier seinen Raum, wo er an seinem kleinen privaten Glück bastelt – und alle verbindet eins: der Stolz, Teil dieser Stadt zu sein. Keilash hat sicherlich kein leichtes Leben, aber er hat es hier her geschafft, und ist damit ein Gewinner. Andere mögen wohlhabender sein oder spannendere Berufe haben oder großgewachsen. Egal, er hat seine Nische gefunden und wenn er neben mir in seinem Wagen sitzt und erzählt, weiß ich, Keilash ist ein König. Zufriedenheit ist eine subjektive Wahrnehmung, eine innere Haltung, eine Frage der Einstellung – zumindest bis zu einem gewissen Grad. Das mußte ich jetzt einfach loswerden!
Ach ja, unsere Fahrt nach Tappan! Sie verlief doch etwas unorthodox: außerhalb Manhattans verließ sich Keilash auf meine Angaben, ich schrie aus dem fahrenden Auto andere Verkehrsteilnehmer an und fragte nach dem Weg, wir mußten einige male Wenden aber fanden schließlich Tappan und unsere Camper Vermietstation. Aus den vereinbarten 75 Dollar wurden am Ende 100, Mautgebühren, Steuern und einen Stadtplannutzungszuschlag hatten wir natürlich nicht bedacht. Egal: Keilashs Geschichte war es allemal wert!