Daheim

Heute ist Montag. In der Früh hab ich mir bei unserem Zeitungskiosk um die Ecke den Spiegel und die Süddeutsche gekauft. „Einmal das Montagsmenü, wie immer, Herr Boyny", meinte der Ladenbesitzer mit seinerspeckigen Schiffermütze, die er trägt, seit ich bei Ihm meine Zeitung kaufe - also seit etwa 100 Jahren abzüglich zweien, in denen wir irgendwo zwischen Alaska und Feuerland unterwegs waren.

 

Ich muss zugeben, dass ich über dieses „... wie immer..." schon ein wenig gestolpert bin beim Hinausgehen: Gerade mal einen Monat sind wir zuhause und schon scheinen wir uns vortrefflich in einen Rhythmus wieder eingeordnet zu haben, der - nicht nur in der Wahrnehmung meines Zeitungsverkäufers - nahtlos anknüpft an die Zeit vor unserer großen Reise. Ich weiß nicht so recht, was ich davon halten soll.

 

Nicht, dass wir uns missverstehen: es machte sich keineswegs Frust breit, als wir zurückkehrten, als wir mit Lucy in unsere Straße einbogen, vor dem Haus parkten, in den fünften Stock stiegen und zum ersten Mal die Wohnungstür aufschlossen. Wie sollte auch, wenn uns jenseits der Schwelle ein von einer schmeichelnden Nachmittagssonne durchfluteter Raum erwartete, in dem üppig die Zimmerpflanzen gediehen und in dem selbst die Fenster blitzblank geputzt waren. Wir steuerten nicht in eine Depression, als wir zum ersten Mal durchs Viertel spazierten und als wir - ganz europäisch - beim Türken unter Gauloise-Sonnenschirmen unseren ersten Chianti bestellten. Wir begegneten entspannten, freundlichen Menschen, nahmen den Großstadtverkehr als angenehm friedlich wahr und den allgegenwärtigen Wohlstand als großes Geschenk. Es war schön, zuhause angekommen zu sein!

 

Erst allmählich tauchen Fragen auf: Was bleibt hängen nach so einer Reise? Was von der Flut an Erfahrungen und Eindrücke können wir hinüberretten in unseren Alltag in München? Was hat sich verändert - und was nicht?

 

Der Ort, an dem wir zurückgekommen sind, ist immer noch der alte - und das ist gut so: mein Zeitungsverkäufer trägt (s.o.) immer noch seine Mütze; auf dem Spielplatz gegenüber entsorgen Wochenblattausträger noch immer, was eigentlich in unsere Briefkästen gehört; beim Tengelmann sitzt immer noch die gleiche Kassiererin und sie besucht immer noch den falschen Friseur; Oscar Lafontaine arbeitet immer noch an seinem Comeback. Und dennoch: Deutschland hat sich verändert. Das Wirtshaus "Rumpler" am Eck darf seine Blumenkästen nicht mehr im Außenbereich aufstellen, weil ausgerechnet ein Grüner Stadtrat ein Problem damit hat; unser Kanzler ist jetzt eine Frau und sie scheint ihren Job halbwegs gut zu machen; es gibt eine Schülerband, die sich Tokio Hotel nennt und die picklige Teenies in Massen kollabieren läßt; die Zeitungen schreiben über Steuermehr(!)-einnahmen und die Deutsche Flagge zu zeigen gilt seit der Fußball-Weltmeisterschaft als politisch korrekt.

 

Wir sind noch nicht ganz wieder auf dem Laufenden, aber wir holen jeden Tag ein Stückchen auf. Auch der routinierte Ablauf alltäglicher Dinge will noch nicht reibungslos über die Bühne gehen: mit dem regelmäßigen Leeren des Briefkastens etwa klappt's noch nicht so recht - um nur ein Beispiel zu nennen.

 

Es ist schön mit Freunden, Nachbarn und Bekannten zusammen zu sein. Es tut gut, im Kreise von Menschen zu sitzen, die uns vertraut sind, und - noch wichtiger - denen wir vertraut sind. Aber wenn die Frage  „... und, wie war's?" aufkommt, tun wir uns schwer mit der Antwort. Die erledigt sich nämlich nicht in einem Nebensatz, und alles, was darüber hinausgeht, überfordert allzu häufig die Zuhörenden. Reisegeschichten sind ermüdend für Dagebliebene - oder womöglich frustrierend. Und wir können es ja verstehen. So wechseln wir also schnell das Thema und plaudern über naheliegendes wie die Reform der Pflegeversicherung, stinkende Komposteimer im Hof und natürlich die süßen Kleinen!

 

Dennoch: die Reise ist allgegenwärtig. Halt mehr im Stillen, aber durchaus im Alltäglichen. Sie ist nicht in den Hintergrund gerückt, noch nicht. Sie wabert im Raum wie ein schwerer Geruch ... nein ... wie ein süßer Duft, der sich einfach nicht verziehen will. Wir sehen alles noch vor uns: die schneebedeckten Andengipfel in Bolivien, zerlumpte Kinder in Nicaragua, den Abstieg in den Grand Canyon, Grizzlybären in Alaska, das Lächeln von Luz Cielo. Diese eingegrabenen Erinnerungen lassen vermeintlich normale Zustände zuhause in ein anderes Licht Rücken, lassen Wichtiges und Unwichtiges neu sortieren und lassen die Sorgen einer Überflussgesellschaft relativieren.

 

Das sind keine neuen Weisheiten ich weiß. Wie heißt es dochso schön? „Wenn ein Esel auf Reisen geht, wird er nicht als Pferd zurückkommen". Das ist wohl war! Wir sind auf unserer Reise nicht gescheiter geworden. Wir sehen nach diesen zwei Jahren nicht klarer, sind den großen Antworten nicht näher gerückt zwischen Alaska und Feuerland. Aber vielleicht - und das wäre doch schon etwas - können wir ja ein paar Fragen ein wenig besser formulieren.

 

Na jedenfalls: von „... wie immer ... " kann keine Rede sein! Das wäre ja auch wirklich traurig. Beim Auspacken unserer Kisten, die in Lucy verstaut waren und die sich nun in unserem Flur stapeln, bin ich vor ein paar Tagen auf einen zerknüllten Zettel gestoßen. Da stand in krakeliger Schrift ein tröstlicher Satz, den ich - ziemlich am Anfang unserer Reise - aus einer Vitrine im Besucherzentrum vom Denali Nationalpark in Alaska abgeschrieben habe. Er lautet:

 

„A mind that is stretched by a new experience can never go back to its old dimensions".

 

Kann das mal einer meinem Zeitungsverkäufer übersetzen ...?

 

 

süße Erinnerungen
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