"Nirgendwo ist ein Ort ..."

... schreibt Paul Theroux*, und er meint Patagonien.

Bald hinter der Grenze nach Argentinien erreichen wir die Ruta Nacional 40, die als endloses staubiges Band in sicherem Abstand zu den Anden Richtung Süden führt. Die wuchernde Natur auf chilenischer Seite entlang der Carretera Austral haben wir längst hinter uns gelassen. Hier sind wir von einer dornigen Steppenlandschaft umgeben, von einer grenzenlosen, windzerzausten Halbwüste unter einem ebenso grenzenlosen, stahlblauen Himmel, an dem zerrissene Wolkenfetzen vorübereilen. Lucy holpert zügig über raue Waschbrettpiste und hinterlässt eine meilenweit sichtbare Staubfahne.

 

Das Land ist menschenleer. Die wenigen Orte mit Tankstellen sind 100 Kilometer und mehr voneinander entfernt, sind wie Inseln in einem Ozean aus stacheligen Gräsern. Noch auf chilenischer Seite in Chile Chico ließen wir beide Dieseltanks randvoll auffüllen, das müsste reichen bis zur Tankstation Tres Lagos, wo die RN 40 einen Knick nach Westen Richtung Lago Viedma macht ... dachten wir!

 

Irgendwo im leeren Raum schalte ich um auf Tank II und stutze: die Anzeige sollte am rechten Anschlag sein, kommt aber bei ¼ zur Ruhe. Was ist denn nun los? Spinnt die Anzeige, leckt der Tank, ist eine Dieselleitung undicht, hab ich einen Knick in der Optik oder ist dem Tankwart in Chile Chico die Lust vergangen? So oder so, mit dem bisschen Sprit kommen wir nicht bis Tres Lagos. Wir fahren rechts ran und beugen uns über die Landkarte. 45 Kilometer südlich von hier führt eine Piste Richtung Osten und erreicht nach weiteren 80 Kilometern Gobernador Gregores, wo es eine Tanke gibt. Bis dahin schaffen wir’s.

 

Gobernador Gregores tut nichts, um dem Durchreisenden zu gefallen. Deshalb erwähnt es auch kein Reiseführer. Als wir das Kaff erreichen, ist es bereits Abend. Schluss für heute, genug Staub geschluckt. Am Ortsrand finden wir einen Stellplatz auf dem Gelände einer Hosteria, wo wir im Gemeinschaftsbad duschen können. Die Nacht ist erstaunlich mild und windstill. Irgendwo in der Umgebung dröhnt Musik bis in die Morgenstunden. Nichts Neues in Südamerika!

 

Am nächsten Morgen stehen wir bereits um 9 Uhr an der Tankstelle. Doch im ganzen Ort ist seit der Früh der Strom wegen Reparaturarbeiten am Leitungsnetz abgeschaltet (das erklärt dann auch, warum die Musik irgendwann aufhörte). Drei Stunden warten wir, bis die Pumpen wieder laufen. In Tank II gehen keine 20 Liter rein – also spinnt wohl doch die Anzeige und den Umweg nach Gobernador Gregores hätten wir uns sparen können.

 

An diesem Tag erreichen wir El Chalten, das nördliche Tor zum Parque Nacional Los Glaciares. In dieser abgelegenen Ecke Südamerikas ist der Grenzverlauf zu Chile noch immer umstritten. Also zimmerten die Argentinier in aller Eile seit Mitte der achtziger Jahre hier ein neues Dorf zusammen, bevor die Chilenen auf dieselbe Idee kämen. El Chalten hat den provisorischen Charme einer Goldgräberstadt aus dem 19. Jahrhundert und seine Bewohner treibt wohl auch ein ähnliches Motiv: abstauben was geht und dann wieder verschwinden! Nur werden hier keine Goldminen geplündert sondern Touristen abgezockt.

Hinter dem Ort ragt eines der majestätischsten  Bergmassive Südamerikas auf, das Fitzroy-Massiv. Seine gewaltigen Granitzinnen erheben sich wie die Türme eines Märchenschlosses aus der Ebene und ziehen Heerscharen von Freeclimbern und Outdoor-Fans an. Der Eintritt in den Nationalpark ist (noch) kostenlos und auch fürs campen am Ortsrand  wird keine Gebühr verlangt. Was wir hier jedoch sparen, geben wir im Supermarkt für überteuerte Lebensmittel und im Internetcafe für astronomische Minutenpreise wieder aus. Sei’s drum!

 

Vier Tage bleiben wir im Nationalpark. Auf dem Campingplatz ist Lucy umzingelt von den gewaltigen Trucks von Rita und Freddy, die wir bereits aus Peru kennen und von Marion und Walter, die auch auf Weltreise sind. Dann steht da ein Unimog mit britischem Kennzeichen, zwei niederländische Expeditionsmobile, zwei deutsche VW-Busse, ein Hymer Mobil etc … - der Ort ist fest in der Hand europäischer Wohnmobilisten. An kühlen Abenden trifft man sich zu angeregten Gesprächs- und lasterhaften Glühweinrunden. Ein bisschen ist die Stimmung wie auf einem Campingplatz im Oberbayrischen – und das hat ohne Zweifel etwas für sich.

 

Der einzige, der sich rar macht in dieser geselligen Runde ist Mount Fitzroy selbst. Am ersten Abend zeigt er sich noch im fahlen Licht der untergehenden Sonne, doch in der Nacht ziehen mächtige Wolken auf, entladen sich in einem krachenden Gewitter und verfangen sich von da ab in den spitzen Zacken des Massivs.

 

Das hält uns nicht davon ab, auf ausgetretenen Wanderwegen das Bergland zu erkunden. Sie führen uns durch moosbewachsene Wälder und offene Savanne, vorbei an gletscherblaue Seen und eiskalte Bachläufe. Immer mal wieder lugt die Sonne hervor, doch ist sie ebenso schnell auch wieder verschwunden.

Einmal noch – es ist elf Uhr nachts - reißt die Wolkendecke richtig auf, fällt wie ein Vorhang und gibt die Bühne frei für ein unvergessliches Spektakel: wir schauen in ein prachtvolles südliches Sternenzelt über Patagonien. Die Milchstrasse wölbt sich in einem gewaltigen Bogen von Horizont zu Horizont, hoch am Himmel steht das Kreuz des Südens als verlässlicher Wegweiser. Dann wandern unsere Blicke weiter Richtung Westen und wir trauen unseren Augen nicht: ein gewaltiger Komet erhellt den Nachthimmel. Er stürzt allmählich hinab Richtung Felsmassiv und zieht einen mächtigen Schweif hinter sich her. Wir starren gebannt auf dieses himmlische Schauspiel und werden von einer entrückten Heiterkeit erfasst. Es ist, als verdichtete sich in diesen Minuten alles Erlebte der vergangenen Monate zu einem einzigen Moment, zu einem strahlenden Lichtpunkt am Firmament.

Jetzt gibt’s keine Zweifel mehr: diese Reise steht unter einem guten Stern …

 

Um in den Südteil des Nationalparks zu gelangen, umfahren wir in einem weiten Bogen Lago Viedma und Lago Argentino hin ins touristische Zentrum Patagoniens, dem Städtchen El Calafate. Es ist schon verwunderlich: da sind wir stundenlang in gottverlassener, stacheliger Pampa unterwegs, begegnen kaum einer Menschenseele und enden am Abend in einem Ort, wo Touristen aus aller Welt über baumbestandene Avenidas schlendern, vorbei an Coffeeshops,  Modeboutiquen und Kunstgalerien. Wie kommen diese Massen hier her? Ist endlich das Beamen erfunden worden und wir haben die Zeitungsmeldung versäumt?

Wir verbringen eine Nacht auf dem ortseigenen Campingplatz und machen uns am nächsten Morgen auf zum weltberühmten Gletscher Perito Moreno. Einmal mehr erwartet uns ein unvergleichliches Naturspektakel: 30 Kilometer weit reicht die Eiszunge des Gletschers in das Gebirgsmassiv der Anden hinein, als 70 Meter hohe Steilwand fällt er nach vorn hin ab. Blau und hellgrün leuchten seine "Klippen". Eine enorme Spannung durch nachschiebende Massen lässt das Eis krachen und knurren wie den Magen eines Riesen. Wenn der Gletscher kalbt und hochhausgroße Blöcke in den Lago Argentino stürzen, hört man das noch viele Kilometer weiter. Den ganzen Nachmittag stehen wir zusammen mit zahllosen anderen Reisenden auf der Aussichtsplattform und geben uns diesem Seh- und Hörerlebnis hin.

 

Die Nacht verbringen wir auf dem Besucherparkplatz. Das ist eigentlich verboten, aber da ist niemand, der sich daran stört. Vor dem Einschlafen lauschen wir dem Ächzen und Stöhnen des Perito Morenos, manchmal grollt er wie ein Donner, einmal in der Nacht glauben wir, dass die Erde bebt.

 

Früh am Morgen, noch bevor sich die Sonne zeigt, stehe ich wieder an der Eiswand und diesmal ist da niemand - nur der Gletscher und ich! Eiskalt ist es. Graue Wolken ziehen vorüber und auch das Wasser des Lago Argentino ist grau, doch im Osten färbt sich der Himmel allmählich pastellrot. Der Koloss hat nicht geschlafen in der Nacht. Eine große dunkle Fläche an seiner Eiswand verrät, dass es irgendwann in den letzten Stunden einen gewaltigen Abbruch gab. Das war wohl der Moment, wo wir spürten, wie die Erde bebt.

 

Langsam schiebt sich die Sonne zwischen Berggrade und Wolkenfetzen hindurch, und als ihre zögerlichen Strahlen schließlich die Eismasse erreichen, bringen sie Perito Moreno zum Leuchten wie einen riesigen, ungeschliffenen Diamanten.

 

Stunden später rollen wir wieder durch menschenverlassen, wellige Wüstensteppe. Guanakos ziehen in kleinen Herden durch die Weiten, verwilderte Pferde und straußenähnliche Nandus. Am Pistenrand  beobachten wir eine Fuchsfamilie, einmal fahren wir beinahe ein Gürteltier über den Haufen. 

Patagonien ist noch immer das Land der Abenteuer und der Abenteurer. Die Geschichte der Revolverhelden Butch Cassidy und Sundance Kid, die einst von Ohio bis ins südliche Patagonien ritten, um im Kaff Río Gallegos die Bank auszurauben, passt ebenso gut hierher, wie die von Bodo, dem freundlichen Frührentner aus Hamburg, der allein mit dem Fahrrad unterwegs ist. An einer wellblechernen Raststation in der leeren Pampa treffen wir ihn und plaudern ein wenig miteinander. Sein größter Widersacher, meint er in gewählter Formulierung, sei der ewige, eiskalte Wind. An manchen Tagen müsse er das Fahren abbrechen, weil er nicht mehr dagegenhalten könne. Dann bliebe ihm nichts anderes übrig, als sein Zelt am Straßenrand aufzubauen und auf ruhigeres Wetter zu warten. Nur, fügt er schmunzelnd  hinzu, ein Zelt bei diesen Winden aufzubauen, sei bisweilen so, als versuche man, Seerosen in der Wüste anzupflanzen. Spricht’s, besteigt sein Fahrrad und zieht heiter weiter.

 

Worin liegt das raue Geheimnis dieser leeren Einöde, das Frührentner zu derartigen Reisen verführt und Schriftsteller wie Edgar Allen Poe, Jules Verne oder Stefan Zweig zu Romanen und Abenteuergeschichten inspirierte? Andere stellten sich vor uns diese Frage. Charles Darwin zum Beispiel. Der notierte - so lesen wir im Reiseführer - nach seiner Forschungsreise durch das Land: „Die Weiten von Patagonien können nur negativ beschrieben werden. Ohne Wohnstätten, ohne Wasser, ohne Bäume tragen sie nur einige wenige zwerghafte Pflanzen.“ Doch Darwin weiter: „Warum haben denn nun, und das ist nicht bei mir allein der Fall, diese dürren Wüsten sich so einen festen Platz in meinem Gedächtnis errungen?“ Ich spekuliere mal, dass auch Bodo im Stillen grübelt über dieses Rätsel.

 

Jenseits der chilenisch-argentinischen Grenze trifft die Steppe unvermittelt auf einen Naturpark, den Kenner zu den schönsten Flecken des amerikanischen Doppelkontinents zählen: Parque Nacional Torres del Paine. Hier ist Trockenheit kein Thema, dafür sorgen dunkelgrau geblähte Pazifikwolken zu jeder Zeit. Ein halbes Dutzend Seen drängen sich vor schroffes Gebirge, dessen Gipfel in der Kälte und Feuchtigkeit der subpolaren Zone vereisen. Pie-nee tauften die Indianer die Gewässer - "hellblau". Reines Understatement! Hell sind am Lago Nordenskjöld allenfalls die Schaumkronen der ufernahen Wellen. Dahinter jedoch breitet sich ein ölfarbenes Pastell aus, dass es eine wahre Pracht ist.

Von unserem Stellplatz am Lago Pehoe aus blicken wir auf eine unwirkliche Felsenburg am gegenüberliegenden Ufer. Wir besteigen über enge, steile Pfade windzerzauste Höhen und schauen hinab in eine Urnatur, die ihresgleichen sucht. Tief unten pflügen Flamingos durch seichtes Wasser, sie sind gerade noch als dünne, rosafarbene Pinselstriche in düsterer Landschaft zu erkennen. Über uns am dunkelgrauen Himmel kreisen majestätisch Kondore, ohne jemals ihre mächtigen Flügel zu bewegen. In der Ferne steigen die granitenen Zinnen des Cerro Torre Grande auf, des Paine Chico und der Cuernos del Paine. Der Wind bläst uns eiskalt um die Ohren, macht das Aufrechtstehen an der Felskante fast unmöglich. Hier erleben wir die Fülle und Pracht der Natur mit allen Sinnen. Wir sehen, riechen, hören, und fühlen reine Urkraft. Ist dies die Krönung der Schöpfung? Ihr vollkommen modelliertes Glanzstück?

 

„Nirgendwo ist ein Ort“, schrieb Paul Theroux über Patagonien. Der Mann kam nie bis zum Torres del Paine.

 

*Paul Theroux: "Der alte Patagonien-Express"