Let's go West

Soviel ist sicher: Kanada ist mächtig groß. Hier ein Beispiel: wenn ich auf meiner faltbaren Weltkarte, die ich immer in meinem Adreßbuch eingesteckt habe, das Lineal zwischen Halifax (unseremAusgangspunkt) und Anchorage in Alaska (unserem mittelfristigem Ziel und zugegebener Weise bereits auf US-amerikanischem Terrain) ansetze, messe ich 5,8 Zentimeter. Das mag jetzt nicht allzudramatisch rüberkommen, aber wenn ich auf derselben Karte ab München Richtung Süden diese 5,8 Zentimeter ansetze, lande ich im Grenzgebiet zwischen Botswana und Südafrika. Oha, wie hört sich dasan?!

 

Legen wir also los: wir besteigen in Bostoneine kleine Maschine nach Halifax, in der Provinz Nova Scotia (Neu Schottland), ganz im Osten Kanadas. Dort beziehen wir unweit des Hafens ein reichlich schmuckloses, aber billiges Zimmer im BayviewMotor Inn. Die „Atlantic Conveyor", das Schiff, in dessen Bauch Lucy die letzten 20 Tage unterwegs war, ist amselben Abend in den Hafen eingelaufen. Wir können es vom Motelzimmer aus sehen.

 

Die nächsten beiden Tage sind wir mit lästigen Formalitäten beschäftigt, um unser Fahrzeug endlich entgegennehmen zu dürfen: unverständliche Zollpapiere Ausfüllen, nicht auffindbare SpeditionbürosAufsuchen, finstere Hafenarbeiter Bestechen, den „Headchecker" vom Container-Terminal Entführen ...! Nein, im Ernst: alles war viel harmloser als befürchtet. An einem bewölkten Mittwochabend, dem 22.Juni 2005 findet die Übergabe statt. Lucy steht da im fahlen Licht der Hafenanlagen und ich glaube, sie lächelt, als wir uns ihr nähern.

 

Auf der Überfahrt ist die hintere Staubox aufgebrochen worden. Das Werkzeug ist gestohlen, die geniale fünf-eckige Plane (nur gut, daß in einer zweiten Kiste eine Ersatzplaneverstaut ist) und mein geliebter Akku-Schrauber. Möge sich der Mensch, der das getan hat, mit dem ebenfalls gestohlenen Hammer ganz kräftig auf den Finger hauen! Ein Tag noch nehmen wir unsZeit, um alles startklar zu machen, neues Werkzeug zu besorgen, Gasflaschen aufzufüllen (uff, der Adapter paßt!) und die Reservekiste mit Lebensmittel zu bestücken, dann brechen wir auf zum 5,8 cmweiten Weg nach Alaska.

Zunächst geht's südwärts entlang der Lighthouse Route Richtung Yarmouth über holprige Küstenstraßen an tief eingeschnittene, felsige oder manchmal weißsandige Buchten. Wir durchfahren verschlafeneStädtchen, die von alten Geschichten um Schmuggler, versunkene Schiffe und Schätze erzählen und begegnen entspannten Menschen mit erfrischend herbem, freundlichem Umgang.

 

Lucy sorgt für erheblichen Wirbel, wo immer wirauftauchen. „Your truck is so weird (Euer Truck ist so komisch)" meinte ein kleiner Junge gleich auf dem ersten Campingplatz direkt am Strand. „Wieso denn das (why that)?" fragen wir verwundert, under: „I don't know, it's just ... so weird!" Ach so! Nun gut. Wenn es denn hilfreich ist, über unser Fahrzeug ins Gespräch mit den übrigen Campern im Park zu kommen, ... um so besser.

 

In Yarmouth am südwestlichen Zipfel von Nova Scotia besteigen wir die Fähre nach Bar Habour, Maine, USA. Der erste Grenzübergang in die Vereinigten Staaten steht uns bevor. Was haben wir nichtalles für Horrorgeschichten in den vergangenen Monaten gelesen über harmlose Touristen, die mit ihrem eigenen Fahrzeug in die USA einreisen wollten und an der Grenze zurückgewiesen wurden aushaarsträubenden Gründen: das Fahrzeug sieht zu militant aus, die Person taucht in irgendeiner dubiosen List von „unerwünschten Zeitgenossen" auf, die Frisur gefällt nicht! Unsere Einreise nach Mainegeht zügiger und freundlicher vonstatten als so mancher Grenzübertritt in die Schweiz: keine merkwürdigen Fragen werden gestellt, keine Liste der Gegenstände im Fahrzeug wird verlangt, keineDurchsuchung der Wohnkabine, nicht einmal die Mütze muß ich abnehmen zur Frisurinspektion (das wäre denn auch unser heikelster Moment gewesen).

 

Über Portland (Maine), White Mountain National Park (New Hampshire), Vermont, Adirondacks Park (New York) und Rochester (International Museum of Photography) erreichen wir in wenigen Tagen dieNiagarafälle im Grenzgebiet zu Kanada. Natürlich hätten wir uns den Umweg über die USA sparen können und auf kanadischer Seite entlang des Nordufers vom Lake Ontario direkt nach Westen reisen können- immerhin überschreiten wir mit diesem Schlenker mal eben locker die 6 cm auf meiner Weltkarte. Aber Sabine bestand auf die Niagarafälle, und sie hatte schon recht damit (obgleich, so lesen wir imReiseführer, Oscar Wild einst bissig meinte, die Niagarafälle seinen – nach einer Hochzeitsnacht – die zweite große Enttäuschung. ... Ein Wunder wären sie nur, wenn sie aufwärts stürzten!).

 

Fakt ist: Auf einer Breite von 675 m(Horseshoe Falls) stürzt das Wasser des St. Lawrence Rivers 54 m in die Tiefe. Diese Zahlen für sich sind keine Superlative – die Wasser der Angle Falls in Venezuela fallen beinahe einen Kilometer(!)in die Tiefe – ihre Attraktion verdanken die Fälle in erster Linie den enormen Wasser- massen, die da über die Klippen stürzen. Wahr ist allerdings auch: jeder Wassertropfen ist bis ins ins letzteMolekül grausam vermarktet. Vor allem auf kanadischer Seite nimmt diese Kommerzialisierung (gerechtfertigt durch angeblich 14 Mio. Touristen jährlich) beinahe groteske Formen an: Casino, Wachsfigurenkabinett, Honeymoon City Motel, „Ripley's believe it or Not" Kuriositätensammlung, etliche Horrorkabinetts und jede Menge Shops, Fast Food Restaurants, Discos usw. ballen sich unweit der Fälle aneinander. Die perfekte Massenabfertigung rund um das eigentliche Naturspektakel wirkt auf uns ernüchternd und abschreckend.

 

Sollte O.Wild etwa recht behalten? Nicht ganz: die Fahrt mit derMaid of the Mist, einer stabilen Barkasse, die bis dicht an die Fälle und mitten in die Gischt hinein steuert, erleben wir als wortwörtlich feuchtfröhlichen Spaß. Alle Fahrgäste bekommen blaufarbeneRegenmäntel -und das ist gut so, nicht, weil sie schick ausschauen, sondern weil unter den gewaltigen Fällen kein Haar trocken bliebe.

 

Einen vollen Tag verbringen wir an diesem einst für die Indianer mystischen Ort. Und auch wenn wir nicht überwältigt in die Knie sinken wie damals Pater Louis Hennepin, der als erster Weißer 1678die Klippe (allerdings als unverfälschtes Naturschauspiel) sah, sind die Niagarafälle allemal ein Abstecher wert.

 

Nun aber los, weiter Richtung Westen. Trödeln gilt nicht mehr, denn der Sommer in Alaska ist kurz - und vor uns liegen noch gute 4,9 Zentimeter.