Peru: im Kernland der Inka

‚Zu einer Zeit, als die Menschen wie Tiere lebten, ohne Ordnung, ohne Religion, ohne Häuser, ohne Dörfer, ohne Felder und ohne Kleider, da schämte sich Vater Sonne für diese armseligen Geschöpfe und er beschloß, einen seiner Söhne und eine seiner Töchter hinunter auf die Erde zu schicken, um die Menschen zu lehren, den Boden zu pflügen, die Saat auszusäen, Vieh zu halten, Häuser zu bauen und ihn, Vater Sonne, zu ehren und seine Gesetzen zu achten.

Er setze seine zwei Kinder auf die Sonneninsel im Titicacasee aus, gab ihnen einen Goldstab und sprach: „Nun zieht los, und wo immer ihr Euch zur Nachtruhe begebt, stoßt diesen Stab in die Erde. An dem Ort, wo er mit einem einzigen Stoß vollständig im Boden verschwindet, laßt Euch nieder und gründet eine Stadt. Herrscht über die Menschen gnädig wie ein Vater über seine geliebten Kinder; denn ich habe euch auf die Erde gesandt, zum Wohle der Menschen, daß sie nicht länger leben wie wilde Tiere.

Die Geschwister traten ihren Weg gen Norden an. Im Tal Huanacauri fanden sie schließlich jenen Ort, an dem der Goldstab mit einem Stoss vollständig im Erdboden verschwand. Hier gründeten sie die Stadt Cusco und regierten über die Menschen als Königin Coya und König Manco Capac, der erste Inka.’

 

So in etwa beschreibt der Chronist Garcilaso de la Vega in seinem Buch „Die Inkas“ die Gründung des größten prähispanischen Reiches Amerikas. Abends in Lucy vor dem Schlafengehen lesen wir uns gegenseitig einige Seiten aus der ebenso mühsamen wie interessanten englischen Ausgabe dieses Werkes vor. Darin erfahren wir zum Beispiel, daß der Titel „Inka“ einst nur dem Herrschergeschlecht zustand und erst später auf das ganze Volk übertragen wurde. Oder auch, daß die Inkas als eine Art Klistier die weißen Wurzeln der rübenähnlichen „Cuacancha“ nutzten, welche, fein gemahlen, von einem Medizinmann durch ein schmales Rohr in den Anus geblasen w…, was ich sagen will ist: wir sind gut vorbereitet, als wir uns endlich Cusco nähern!

 

Wir erreichen die Stadt auf knapp 3400 Metern Höhe an einem sonnigen Spätnachmittag. Unweit des Zentrums gibt es seit kurzer Zeit einen Campingplatz (soviel vorneweg: ein wunderbarer Travelertreff unter holländischer Regie. Helmie, der Platzwart, kümmert sich rührend um seine Gäste. Er serviert morgens frisch gepreßten Orangensaft, hat im Kühlschrank immer ein kühles Bier und bei passenden Gelegenheiten rückt er auch mal ein Flasche Schnaps heraus …). Hier wollen wir eine Art Basislager für die nächsten 3 Wochen errichten. Doch erstmal müssen wir den Campingplatz finden. Wir haben dessen GPS-Koordinaten eingegeben und versuchen mangels Stadtplan, uns per Satellitennavigation dem Standort zu nähern. Lucy müht sich durch schmale, gepflasterte Gassen und endet dabei eher aus Versehen in der Plaza de Armas, dem Hauptplatz Cuscos. Schon beim flüchtigen Vorbeifahren ahnen wir, daß wir an einen außergewöhnlichen Ort angekommen sind.

 

Die einstige Hauptstadt des Inkaimperiums und „Nabel der Welt“, war in ihrer Blütezeit mindestens so mächtig und wahrscheinlich reicher als das alte Rom. Sie muß unbeschreiblich prachtvoll gewesen sein. Die königlichen Paläste, lesen wir z.B. bei Garcilaso, waren mit getriebenem Gold verkleidet. Doch dann kamen 1533 die goldhungrigen Spanier, namentlich Francisco Pizarro mit einem zahlenmäßig unter-, aber waffenmäßig überlegenen Heer, und es begann das alte Spiel: sie eroberten das Reich, plünderten und zerstörten die Stadt und bauten auf ihren Ruinen Kathedralen und Klöster zu Ehren eines Gottes, der Nächstenliebe und Gewaltlosigkeit predigt.

 

Bei unserem ersten Bummel durch die Altstadt noch am Nachmittag unserer Ankunft kommen wir aus dem Staunen nicht heraus. Allein die Kathedrale an der Plaza de Armas, die zwischen 1559 und 1654 errichtet wurde (und die nicht einmal als die schönste und prunkvollste Kirche der Stadt gilt) macht uns sprachlos: 85 Meter lang ist sie und 45 Meter breit. Von außen gleicht sie eher einer Festung, als einem Gotteshaus. Im Innern verdeckt ein protziger Hauptaltar aus massivem Silber in spätklassizistischem Stil einen ursprünglichen, aus Zedernholz geschnitzten und mit Gold verkleideten Altar. In zehn Seitenkapellen befinden sich kostbare Bildhauer- und Silberarbeiten, zeremonieller Schmuck und wertvolle Gemälde. Hier waren Baumeister am Werk, die nicht kleckerten. Hier wurde geklotzt.

 

Doch das faszinierendste Element des Baus sind die Grundmauern, auf denen die Kathedrale teilweise errichtet wurde: einst stand an dieser Stelle der Palast des 8. Inca Wiracocha. Riesige Steine wurden so perfekt behauen, daß Mörtel überflüssig wurde. Die Blöcke liegen fugenlos übereinander, sind ineinander verzahnt und verbolzt, zwischen ihnen paßt kein Blatt Papier und …: sie tragen eine Kathedrale. Auch nach heutigen Gesichtspunkten gilt diese Baukunst der Inkas, der wir in der gesamten Altstadt Cuscos begegnen, als rätselhafte Meisterleistung. Man weiß nicht einmal, wie die tonnenschweren Blöcke überhaupt transportiert wurden (das Rad kam nicht zum Einsatz).

 

Dieses Nebeneinander, bzw. Übereinander von alten indigenen und kolonialen Kulturmerkmalen kennzeichnen Cusco: herrliche Patiohäuser reihen sich entlang alter Inkawege aneinander; im Kreuzgang eines Klosterhofs stehen die Reste des inkaischen Sonnentempels; in von Indianern kopierten alten europäischen Meisterwerken sind die Gesichtszüge eindeutig mestizisch; auf dem Gemälde „Das letzte Abendmahl“ in der Kathedrale steht auf dem Tisch ein Teller mit cuy, Meerschweinchen. Cuscos kultureller Mix ist omnipräsent und er bestimmt in gleicher Weise das Treiben in den Straßen und Gassen: westliches Geschäftsgebaren neben indigenen Bräuchen. Junges Inkamädchen in traditioneller Tracht in den Armen eines kaugummikauenden Teenagers mit Baseballkappe. In einem Taxi baumelt am Rückspiegel ein Bildnis der Jungfrau Maria neben der Chakana, dem alten Symbol andinischer Spiritualität. Was wir woanders als Zerrissenheit empfunden haben, scheint hier mit einer Gelassenheit und Selbstverständlichkeit zu funktionieren, die uns verblüfft. Und auch wenn die Stadt am Tropf der internationalen Tourismusindustrie hängt und jedes zweite Gebäude ein Hotel, ein Restaurant oder ein Souvenirladen ist, wirkt sie auf eine unvergleichliche Art und Weise authentisch.

 

Fast eine Woche lang vertreiben wir uns die Zeit in Cusco. Besichtigen Museen, Kirchen und Tempel, gehen aus zum Essen, waschen Wäsche, schmökern in Buch- und CD-Läden, kaufen handgewebte Stoffe von alten Marktfrauen, faulenzen, fotografieren, … es ist, als ob sich Peru mit uns versöhnt – oder wir uns mit Peru. Das Reisen macht wieder Spaß.

Für Samstag kaufen wir uns Fahrscheine für den Backpacker Express. Um sechs Uhr in der Früh besteigen wir den Zug, der uns in vier Stunden nach Aquas Calientes bringt, wo wir uns in einem einfachen Hostal ein Zimmer mieten. Wir bummeln ein bißchen durch den schmucklosen Ort, machen nachmittags einen Spaziergang entlang des Rios Urubama, essen an der Plaza zu Abend und gehen früh schlafen. Um fünf Uhr am nächsten Morgen klingelt der Wecker erneut. Um halb sechs sitzen wir unausgeschlafen in einem Bus … und sind 20 Minuten später hellwach: wir erreichen das schönste und rätselhafteste Zeugnis der Inkazeit, die Ruinenanlage Machupicchu.

 

Auf 2470 Metern Höhe inmitten einer grandiosen Bergwelt thront eine Inkastadt, die ebenso faszinierend wie geheimnisvoll ist. An drei Seiten ist sie von steilen, schroffen Felsen umgeben, die tief unten vom wilden Rio Urubama umtost werden. An ihrem nordwestlichen Ende ragt wie ein riesiger Beobachtungsturm der Waynapicchu auf. Die Lage Machupicchus ist bestens geeignet zur Verteidigung und Kontrolle des gesamten Tales. Das läßt den Schluß zu, daß hier irgend etwas geschützt wurde. Nur was, darüber streiten sich die Experten. "War die Anlage eine Sommerresidenz der Inkaherrscher, Fluchtburg der Sonnenjungfrauen, Stadt der Magier, eine Inka-Universität, eine Festung gegen wilde Amazonasstämme oder alles zusammen?" fragt unser Reiseführer.

 

Wir passieren die Kartenkontrolle, besteigen eine letzte Anhöhe und erreichen eine Terrassenanlage, von der aus wir hinabschauen auf das wohl bekannteste und meistfotografierte Motiv Südamerikas, tausendfach gesehen in Büchern, Zeitschriften und Postkarten. Doch die Aussicht, die wir von hier oben haben, ist so grandios – kein Foto vermag diesem Bild gerecht werden: Nebelschwaden steigen vom Fluß hinauf, hüllen für Momente die alten Gemäuer der Ruinenstadt ein, eh sie weiter aufschweben zum Gipfel des Waynapicchu. Die Anlage ist umgeben von kunstvoll angelegten Terrassen, die in senkrecht abfallende Felsformationen übergehen. Für Augenblicke dringen die ersten Sonnenstrahlen durch Wolkenlücken und werfen Lichtpunke auf dunkle Nebelwälder, die das Bergland um Machupicchu bedecken. Wir sind an einem Ort, an dem Natur und Architektur eine beinahe unwirkliche Harmonie schaffen.

 

Weit über eine Stunde sitzen wir da oben auf der Mauer einer der Terrassen und können uns von dem Anblick hinunter in die Ruinenstadt gar nicht lösen. Da taucht lärmend eine russische (meine ich 'rauszuhören) Touristengruppe auf, testet mittels schallenden Gelächters die Akustik Machupicchus und zieht uns zurück auf den Boden der Realität.

 

Die nächsten drei Stunden besichtigen wir alte Palastanlagen, Tempel und Wohnstätte. Auch hier errichteten die Inkas bis zu einem Meter dicke, fein gearbeitetete Mauern aus fugenlos übereinandergelegten, polierten Steinblöcken. Wir staunen über ein ausgeklügeltes Wasserleitungssystem und versuchen, die Funktion eines Sonnenobservatoriums zu enträtseln, das den Namen Intiwatana trägt, „Ort, an dem die Sonne angebunden ist.“ Die einzelnen Bauten Machupicchus können sich hinsichtlich Größe und Pracht nicht mit denen Tikals in Guatemala oder Teotihuacans in Mexiko messen. Sie sind vergleichsweise klein und weisen in fast uniformierter Regelmäßigkeit die gleichen Merkmale auf (trapezförmige Eingänge, Nischen im gegenüberliegenden Gemäuer, Spitzgiebel). Es ist die die komplette Anlage, die in dieser dramatischen Naturszenerie ein Gesamtkunstwerk formt von magischer, einzigartiger Schönheit.

Ich schwelge schon wieder in verbalen Ergüsse.  Jetzt mal etwas verkürzt:

 

Am späten Nachmittag sitzen wir wieder im Backpacker-Express zurück nach Cusco. Dort vertrödeln wir noch mal einige Tage, ehe wir aufbrechen ins Valle Sagrado de los Incas, dem wegen seines besonders milden Klimas und seiner Fruchtbarkeit heiligen Tal der Inkas. Wir besichtigen die Salzterrassen von Pichingote, wo mineralhaltiges Wasser in zahllose Becken geleitet wird, in denen es verdunstet und so das wertvolle Salz gewonnen wird. Die Arbeitsmethoden an den terrassierten Hängen sind archaisch und hart. Zwei Beutel Salz kaufen wir am Ort. Unser Vorrat bis zum Ende der Reise ist somit gesichert.

Dann fahren wir bei strömendem Regen durch das Tal bis zum kleinen Ort Pisaq, der eine um so größere kulturelle Vergangenheit besitzt. Oberhalb der Stadt klebt an steilen Berghängen eine mehrere Quadratkilometer große Ruinenstätte der Inkas, die wir mühsam erklimmen und besichtigen. Auf 3600 Metern Höhe geht uns schnell die Luft aus (der Coca-Tee zur Brotzeit verfehlt offensichtlich seine Wirkung. Wir müssen an der Dosierung arbeiten). Die Ruinenanlage umfaßt Häuser und Paläste, Tempel, Mausoleen und sogar ein riesiger Friedhof. Sie ist wirklich beeindruckend und wir nehmen uns einige Stunden Zeit für sie, doch der eigentliche Grund, weshalb wir in Pisaq Zwischenstation machen und die Nacht hier verbringen, ist ein anderer. Am nächsten Morgen ist Bauernmarkt auf dem Dorfplatz.

 

Indigene Marktfrauen breiten ihre Ware auf dem Kopfsteinpflaster aus und verkaufen hier, was im Tal und darüber hinaus erzeugt wird: Zwiebeln, Mais, Avocados, Kohlköpfe, Kräuter, Kartoffeln, Zitrusfrüchte, Cocablätter und vieles mehr. Es ist ein herrlich farbiger, geschäftiger Markt. Rege verhandeln die Menschen in Quechua, der Sprache der Inkas. Von den Garküchen ziehen verlockende Gerüche über den Platz. An der Kirche erleben wir den Auftritt der Alkaldes: Dorfälteste und Bürgermeister in bunten Trachten und „Hut-Schüsseln“ stellen sich am Portal auf und ertragen gelassen uns Reisende, die wir wie die Bekloppten Fotos schießen.

 

Bis die Touristenmassen aus Cusco endgültig den Marktplatz erobern, haben wir unsere Obst- und Gemüsereserven aufgefüllt (alle Speicherkarten sowieso…) und verlassen am frühen Nachmittag Pisaq. Eine einspurige Schotterpiste führt uns hinauf auf 4200 Meter, vorbei an steile Äcker, wo mit Handpflug der Boden aufgescharrt wird; vorbei an karge Weiden, auf denen Hirtenmädchen Ziegen, Alpakas und Schafe hüten; vorbei an kleine Dörfer, wo die Menschen in Lehmhütten leben wie vor Jahrhunderten. Dies ist reines Inkaland. Hier gelten soziale Strukturen und Traditionen wie zu der Zeit,  als ein von Vater Sonne abstammender König das Land regierte.

 

Allmählich werden die Dörfer spärlicher, Begegnungen mit Menschen seltener, das Land wilder. Wir wollen unbedingt noch vor Einbruch der Dunkelheit Tres Cruzes erreichen, ein Aussichtspunkt auf knapp 4000 Metern, von dem aus man den spektakulärsten Sonnenaufgang in Peru erleben kann. Doch starker Regen erschwert das Vorwärtskommen auf der rauhen Piste. Weniger als 20 Kilometer schaffen wir in der Stunde. Irgendwann sind wir von stockfinsterer Nacht umgeben. Zum Regen gesellt sich auch noch Nebel, die Sicht in dieser Bergwelt reduziert sich auf ein Paar Meter. Dann endlich, als wir schon drauf und dran sind, am Wegesrand die Nacht zu verbringen, erreichen wir die Abfahrt nach Tres Cruzes. Noch einmal sind es von hier aus 13 Kilometer bis zu unserem Übernachtungsstellplatz.  Doch auf dem schmalen Erdweg kommen wir etwas besser voran als auf der Schotterpiste von eben. Schließlich erreichen wir die Aussichtsplattform, an dessen hinterem Ende eine Schützhütte steht, in der wir Kerzenlicht erkennen. Geschafft! Wir atmen durch und fahren die letzten Meter hinunter zum Vorplatz der Hütte. Doch der ist zu uneben für die Nacht. Ich wende auf matschigem Untergrund und … fahre Lucy bis zu den Achsen in die nasse Erde fest. Oh shit! Nicht auch noch das!

 

Selbst der Allrad ist wirkungslos in dieser Situation. Aus der Hütte kommen Menschen heraus. Eine Fünfergruppe britischer Touristen nebst Guide und Fahrer beobachten, wie ich vergebens versuche, das Fahrzeug aus dem Dreck zu wühlen. Einige schieben mit an, doch das führt nur dazu, daß sie von oben bis unten von Matschspritzer, die die durchdrehenden Reifen umherschleudern, versaut werden. Schließlich hängen wir Lucy an ein Seil und binden sie an den Tourbus, mit dem die Reisegruppe hier hinaufgekommen war und der etwas oberhalb auf festem Untergrund steht. Der Busfahrer stößt nach hinten. Lucy bewegt sich Meter für Meter aus dem Schlamm. Fast haben wir es geschafft, da steuert der Fahrer zu weit nach links. Der Bus kommt vom Weg ab und droht selber den Abhang hinabzurutschen. Nur dank Lucys vier Tonnen stürzt er nicht in die Tiefe. Nun ist sie es, die den Bus aus dieser bedrohlichen Lage zieht, mit dem Ergebnis, daß wir wieder im Matsch enden. Also noch mal von vorne. Diesmal klappt es und schließlich stehen beide Fahrzeuge auf sicherem Terrain.

 

Diese Hilfsaktion ist uns unsere letzte halbe Flasche feinsten Tequilla aus Mexiko wert. Wir trinken gemeinsam in der Schutzhütte die edlen Tropfen aus Blechbechern. Das Zeug wärmt, entspannt und tut gut, verdammt gut. Die Leute sind freundlich, vor allem die Briten. Ich mag Briten. Mag ihren Humor, ihre geistreich-ironische Gesprächskultur, ihr Englisch sowieso - aber das hat hier nichts zu suchen. Bald ziehen wir uns in Lucy zurück, essen noch etwas aufgewärmten Kartoffel-Gemüseeintopf vom Vortag und gehen schlafen.

 

Die Nacht auf fast 4000 Metern Höhe ist bitterkalt. Die dünne Luft läßt uns unruhig schlafen. Um fünf Uhr in der Früh klingelt der Wecker. Sabine bleibt liegen. Ich schäle mich aus der kuschelig-warmen Decke, zieh mir ein paar Klamotten über und trete hinaus in die eisige Morgendämmerung, laufe mit der Kamera auf einen Hügel und schaue hinab auf eine andere Welt: vor mir stürzen die Anden über dreieinhalb Tausend Meter hinab in das Tiefland des Amazonasbeckens. Über mir eine fast geschlossene Wolkendecke, unter mir der dampfende Dschungel des größten Regenwaldgebietes der Erde. Dazwischen klare Morgenluft, die für Sekunden durch eine aufgehende Sonne zu glühen scheint, eh diese wieder hinter einer grauen Wolkenwand verschwindet. Wieder so ein Bild, das nicht zu fotografieren ist. Doch dieser Augenblick, dieser kurze Moment ist es, weshalb wir unbedingt die Nacht hier oben verbringen wollten. Und er ist diese Strapaze wert!

 

Da steh ich also, fotografiere (weil ich’s nicht lassen kann), friere und versinke in wirre Gedanken über das Reisen, die Lust auf Abenteuer, den Preis, den wir gelegentlich bezahlen und die Belohnung, die wir ein Leben lang in uns tragen. Unter mir breitet sich ein grünes Universum aus, der Garten Eden unseres Planeten. Da hinunter wollen wir heute. Das Abenteuer beginnt: jetzt!