(Diesmal keine Fotos. Die Gründe dürften sich herumgesprochen haben. Das nächste mal dann wieder jede Menge buntes, versprochen! Und wegen der Länge dieser Geschichte besser erst ausdrucken und dann lesen!)
In einer asiatischen Weisheit heißt es: „Wird das Reisen zu leicht und zu bequem gemacht, so geht sein geistiger Sinn verloren.“ Nun, wenn dem so ist, dann sind wir in diesen Tagen auf dem Pfad der Erleuchtung unterwegs … !
Entlang der Panamericana rollen wir durch eine endlose Küstenwüste. Allerdings werden wir nicht etwa von flirrender Hitze erschlagen, eher von kühler Trübnis erdrückt. Der Humboldtstrom vor der Küste läßt warme Pazifikluft abkühlen und zu Nebel kondensieren, der dann ins Land zieht. Doch das bißchen Feuchtigkeit reicht halt nicht aus für anständigen Regen. So ist das Land ebenso wolkenverhangen wie trocken wie – über weite Strecken - trostlos. Gelegentlich ist die Wüste von Flußoasen durchzogen, in denen Baumwoll-, Zuckerrohr- und Reisplantagen ein farbliches Durchatmen in der ansonsten graubraunen Pampa verschaffen.
Die Reise schleppt sich in diesen Tagen freudlos dahin. Ist es das eintönige Land um uns herum, der ewig graue Himmel? Oder macht sich allmählich, nach 15 Monaten Unterwegssein und fast 50.000 gefahrenen Kilometern Müdigkeit breit? Plötzlich wird nervig, was wir bisher als spannend erlebt haben: die neugierigen Blicke der Peruaner abends vor Lucy empfinden wir als distanzlos und lästig. Holprige Pisten sind keine Wege, die ins Abenteuer führen, sondern ein Übel, dem wir, wenn es irgendwie möglich ist, ausweichen. Jahrhunderte alte Ruinen aus der Prä-Inka-Zeit lösen bisweilen ein müdes Gähnen aus.
Nicht, daß wir sie deswegen ausließen: Am Stadtrand von Trujillo z.B. besichtigen wir die Ruinenanlage von Chan Chan, einst Hauptstadt der Chimu. Dieses Volk beherrschte zwischen 1000-1450 n.Chr. einen großen Teil der Küstenwüste. In ihrer Zeit war Chan Chan nicht nur die größte Stadt Südamerikas, sondern wahrscheinlich der ganzen Welt. Bis zu 100.000 Menschen lebten in der 20 qkm großen Anlage, die einst vollständig von einer Mauer aus Lehmziegeln umgeben war. Heute ist nicht viel mehr als ein Trümmerfeld übrig geblieben. Doch ein kolossaler Zeremonialpalast ist teilweise restauriert worden, und den wollen wir uns anschauen. In aufkeimendem Aktionismus rücken wir sogar 20 Soles heraus, um uns von einer jungen peruanischen Geschichtsstudentin durch das Areal führen zu lassen. Leider ist ihr Englisch so schlecht und unverständlich, daß wir es wahrscheinlich nicht merken würden, wenn sie alte Kochrezepte zitierte. Wir verstehen nur „Bahnhof“, gelegentlich „Rembrand“. Immerhin: die 10 bis 12 Meter hohen und 4 bis 5 Meter dicken Adobemauern sind schon beeindruckend. Alle Ecken in diesem Komplex weisen einen Winkel von etwas über oder unter 90 Grad auf. Eine Erklärung für diesen ungewöhnlichen Eckwinkel konnte uns die junge Studentin allerdings nicht geben – oder wir haben sie nicht verstanden …!
Wir nähern uns Lima, der Hauptstadt Perus, geschätzte Einwohnerzahl: über 10 Millionen. Lange Zeit galt Lima als die herrlichste und kultivierteste Stadt Südamerikas. Dann ließen Erdbeben, Mißwirtschaft und Korruption die Fassaden bröckeln. Heute droht Lima - wie nahezu alle lateinamerikanischen Metropolen - am unkontrollierten Zuzug der vor allem indigenen Landbevölkerung, die vor Armut und Arbeitslosigkeit flüchten, zu ersticken. Reisende untereinander ermutigen sich nicht gegenseitig, die Stadt zu besuchen. „Wenn Ihr nach Cusco und Ariquipa reist, habt ihr die schönsten Städte Perus gesehen“, erzählt uns bereits in Ecuador Peter aus Vilcabamba. „In Lima seid umgeben von Umweltproblemen, Armut, Chaos, Korruption und Kriminalität.“ Und selbst Lonely Planet – sonst eher eine zuverlässige „Alles-ist-cool“-Lektüre - findet einleitend keine schmeichelhafte Worte für Lima. Wir wollen’s dennoch versuchen!
Dann aber wird die Stadt ihrem wenig glanzvollen Ruf schon Stunden vor ihren Stadtgrenzen gerecht. Wir stecken in den Krallen eines Verkehrs, in dem es nur zwei Regeln zu geben scheinen:
Regel Nr. 1: wer lauter hupt, hat Vorfahrt.
Regel Nr. 2: wer über größere Kaltschnäuzigkeit verfügt, darf Regel Nr. 1 außer Kraft setzen.
Darüber hinaus folgt der Verkehr keinem für uns erkennbaren Muster. Straßenschilder und - soweit vorhanden – Straßenmarkierungen scheinen ausschließlich dekorative Zwecke zu erfüllen. Das Motto lautet: hupen, was das Zeug hält und los! Und hoppla, irgendwie funktioniert's. Erstaunlich nur, wie Polizeistreifen, die uns streckenweise viertelstündlich anhalten, in meinem Fahren einen Regelbruch in diesem regelfreien Raum zu erkennen glauben. Uns werden innerhalb eines Tages folgende Vergehen vorgeworfen:
Und immer droht man uns mit der gleichen Prozedur: Führerscheinentzug auf unbestimmte Zeit plus Geldbuße, zahlbar bei der nächsten Polizeidienststelle. Alternativ ein Bußgeld, zu bezahlen augenblicklich an Ort und Stelle. Auf den Einzug des Führerscheins wird in diesem Fall generös verzichtet. Man könnte sich totlachen, wenn's nicht zum Schreien wäre. Viermal lassen uns die Brüder weiterfahren, nachdem wir uns den Mund fusselig debattiert haben (das geht dann so weit, daß wir drohen, die deutsche Botschaft einzuschalten). Einmal berappen wir wegen überhöhter Geschwindigkeit 340 Soles - über 100 U$. Lima verursacht bei uns einen dicken Hals, noch eh wir uns überhaupt auf Hotelsuche machen. Und weil das so ist, entscheiden wir an einer Tankstelle (wo wir mal eben anhalten, um kurz durchzuatmen), die Stadt zu umfahren.
Nicht weit im Süden von Lima erwartet uns Hoffnungsvolleres. Rund um die Stadt Ica liegt Perus größtes Weinanbaugebiet. Wir finden am Pool eines Hostals in Huacachina einen ansprechenden Stellplatz für die Nacht. Huacachina ist eine Oase mit einer von Dattelpalmen umgebenen Lagune inmitten hoher, feinsandiger Wüstendünen. Kaum zu glauben, daß nur einige Kilometer von hier entfernt Weintrauben wachsen.
Wer mutig ist, kann sich in Huacachina Sandboards ausleihen und die steilen Hänge hinuntersurfen. Wir sind es nicht. Statt dessen besteigen wir keuchend bei Sonnenuntergang den Gipfel einer der Dünen und werden mit einer grandiosen Aussicht belohnt: tief unter uns sehen wir die Oase als einen grünen Farbklecks in fast weißer Umgebung. Nach Westen, der untergehenden Sonne entgegen, erstreckt sich eine Sandwüste, wie schöner die Sahara nicht sein kann. Richtung Osten zieht die Panamericana durch das Land, entlang derer sich einfache Lehmhütten wie Perlen an eine Kette hängen. Richtung Südosten erkennen wir gerade noch die ersten Weinfelder. Hier oben öffnen sich unsere eingetrübten Sinne.
Wieder unten an der Lagune kommen wir mit Miguel ins Gespräch. Er ist in Ica aufgewachsen und fährt Touristen in Monster-Buggies durch die Dünen. Er kennt sich aus in der Region. Welche Bodega er denn für eine nette Weinprobe empfehlen kann, fragen wir ihn. Er schickt uns ins Dorf Ocucaje zum Weingut gleichen Namens: dieses liege zwar schon ziemlich weit im Süden, abseits der anderen Bodegas, aber der Wein sei exzellent, die Gebäude historisch, und für Lucy finde sich da auch ein Stelllatz fuer die Nacht. Na, das hört sich doch nach einem Plan an!
Am nächsten Morgen fahren wir zunächst nach Ica hinein und besuchen das Museo Regional del Inca. Dort sind Mumien, Schädel, Keramik- und herrliche Webarbeiten der Pacaras- und Nasca-Kultur ausgestellt. Die schönsten Exemplare der kostbaren Stoffe wurden vor zwei Jahren geklaut und hängen jetzt wahrscheinlich als Wandschmuck im Wohnzimmer irgendwelcher reichen Leute in Lima, erzählt uns verbittert der Kassierer.
Gegen Mittag brechen wir Richtung Süden auf. Nach 40 Kilometern führt eine staubige Piste über Geröllhalden in eine grüne Senke, in der der Wein von Ocucaje wächst. Das Weingut inmitten des kleinen Ortes ist umgeben von einfachen Hütten für die Arbeiter des Hauses. Hohe Mauern lassen die Anlage wie eine Festung aussehen. Wir klingeln an einem mächtigen Eisentor. Ein Pförtner öffnet und winkt uns hinein. Wir sind in einem Dorf im Dorf: eine herrschaftliche Hazienda, alte Lager- und Wohnhäuser, üppige Gärten, ein Pool, ein Restaurant … - wir sind richtig. Man führt uns zu eine Art Rezeption, wo ein schlechtgelaunter Mestize uns herablassend darüber informiert, daß Ocucaje Weinproben nur im Rahmen einer geführten Tour 12 Uhr Mittags anbiete, daß das Restaurant bereits wieder geschlossen hätte und daß für Lucy hier sowieso kein Platz sei. Es ist viertel vor eins. Lucy steht auf einem Parkplatz, auf dem 10 Reisebusse Platz hätten. Verdutzt stehen wir da, erklären noch einmal, daß wir ja gerne ein Paar Soles in feine Fläschchen investieren würden, aber nicht, ohne vorher zu Kosten und daß das Plätzchen, wo Lucy gerade parkt, ist ideal für die Nacht. Doch der Mann ist ebenso stur wie unappetitlich, ebenso arrogant wie dumpfbackig. Na, dann lassen wir’s eben!
Wir fahren weiter Richtung Süden und hoffen darauf, entlang der Strecke ein anderes Weingut zu finden. Doch Ocucaje scheint tatsächlich der südlichste Außenposten der peruanischen Weinregion zu sein. Am Ende des Tages landen wir frustriert im Städtchen Nasca. Damit hat sich auch das Thema „Weinprobe in Peru“ erledigt.
„Nicht kleinkriegen lassen“, lautet die Devise. Wir nehmen uns vor, positive kosmische Schwingungen aus dem Universum aufzufangen und milde lächelnd weiterzugeben. Dazu richten wir uns im Garten des Hotels Nido del Condor ein schönes Plätzchen unter schattenspendenden Eukalyptusbäumen ein, hängen Lucy an eine Steckdose, bauen seit langem mal wieder die Plane auf, binden die Hängematte zwischen zwei Bäumen, lassen Buddha Bar aus der Anlage wabbern und zünden in der Kabine japanische Räucherstäbchen an, die wir noch aus San Francisco haben. Wir setzen uns bei Dämmerung in unsere Campingstühle und öffnen eine Flasche Cabernet Sauvignon aus dem Hause Concha y Toro in Chile (dumm gelaufen für Ocucaje). Und es funktioniert: Der Ärger über unsere mißglückte Weintour beginnt gerade zu verpuffen, da … baut sich neuer Frust auf: Hinter der Gartenmauer fängt ein Dieselmotor an zu dröhnen. Er pumpt Grundwasser an die Oberfläche. Der Wein will bei dem Krach nicht so recht schmecken. Wir fragen an der Rezeption vorsichtig an, wann das Ding denn abgeschaltet wird und wundern uns gar nicht mehr, als wir erfahren, daß wir mit dem Lärm die ganze Nacht leben müssen. Cooool bleiben ...! Gaaaaanz coooool ...!
Nasca ist Ausgangsort zu einem der frühgeschichtlich interessantesten Punkte der Welt, zu den Nasca-Geohlyphen: in unglaublichen 500 Quadratkilometern regenloser Pampa sind 800 schnurgerade Linien, 300 geometrische Figuren (Geoglyphen) und 70 überdimensionale Tier- und Pflanzenzeichnungen in den Wüstenboden „geritzt“. Von unten aus sind die Markierungen kaum wahrnehmbar. Erst, wenn man aus der Luft hinabschaut, erkennt man die gigantischen Figuren, Kanäle und geheimnisvollen Zeichnungen. Die faszinierendsten Darstellungen zeigen Tiere: eine 180 Meter lange Eidechse etwa, oder einen Spinnenaffen mit spiralförmigem Schwanz, einen Killerwahl, einen Kolibri und einen Mann mit Eulenkopf.
Die Bedeutung der mysteriösen Erdzeichen liegt im Dunkeln. Urheber war wohl ein Küstenvolk, das ca. 200 Jahre vor Christus lebte und heute „Nasca“ genannt wird. Doch welchem Zweck dienten sie? Waren sie Teil eines gigantischen astronomischen Kalenders, rituelle Prozessionspfade oder außerirdische Landebahnen, wie uns ein gewisser Erich von Daniken glauben machen wollte?
Am nächsten Morgen buchen wir für den späten Nachmittag einen Rundflug über die mysteriösen Linien. Gegen Mittag nehmen wir uns ein Taxi und lassen uns zur Plaza de Armas, dem Hauptplatz Nascas chauffieren.
Die Stadt Nasca ist eine lieblos in den Wüstensand hineingeworfene Ansammlung von gesichstlosen Häusern und Bauruinen. In staubigen Straßen tummeln sich freudlose Menschen. Die Verkaufstände sind schäbig, die Läden heruntergekommen, alte Daewoo-Taxis hupen ohne Ende (willst Du im peruanischen Straßenverkehr auffallen, hupe nicht ...!). Es riecht nach vergammeltem Fleisch, nach Urin, nach Armut und Resignation. Doch wir wollen uns heute die Stimmung nicht vermiesen lassen. Wir schwingen planmäßig positiv und sind ja außerdem wegen der Linien in der Wüste hier, nicht wegen der Stadt. Wir kaufen ein Paar Lebensmittel und gehen zum Mittagessen in ein Lokal direkt am Platz. Mein Suprema de Pollo a Jerez entpuppt sich als Hähnchenfilet, das in einer ebenso undefinierbaren wie unansehbaren, braunen Soße versackt, Sabines gemischter Salat wirkt ebenso leblos wie ein Blecheimer, … wir schwingen!
Stunden später besteigen wir zusammen mit einem ungarischen Pärchen und einem Peruaner eine kleine, einmotorige Propellermaschine. Unser Pilot stellt sich als Gustavo vor und trägt die Sonnenbrille so lässig, wie es nur Piloten können. Ich nehme vorne neben Gustavo Platz, die beiden Frauen sitzen hinter mir, in der letzten Reihe sitzen die Männer. Die Maschine rollt über eine wellige Startbahn, zieht steil auf und dreht gleichzeitig ab Richtung Westen. Als wir nach wenigen Minuten die ersten Linien unter uns erreichen, hänge ich bereits über der Tüte und erlebe ein unerfreuliches Wiedersehen mit dem Suprema de Pollo a Jerez. Während des gesamten, halbstündigen Fluges starre ich entweder benommen knapp am Öldruckmesser vor mir vorbei oder senke in elender Qual mein Haupt Richtung Tüte. Von den rätselhaften Linien unter uns bekomme ich nichts mit. In einem klaren Moment zwischendurch tut mir der Pilot neben mir leid.
Auf diesem Flug hat sich’s ausgeschwingt! Den Abend verbringe ich in betäubter Lethargie im Alkoven unserer Kabine. Sabine, die den Flug erstaunlich gut überstanden hat, bereitet sich eine Nudelsuppe zu. Als sie ißt, muß ich wegschauen. Und derweil dröhnt der Dieselmotor neben uns unaufhörlich.
Bloß weg aus Nasca. Am nächsten Morgen fahren wir noch einmal kurz in den Ort hinein. Sabine muß nach Deutschland telefonieren, ich will uns noch schnell etwas Brot besorgen. Wir parken Lucy auf der Plaza de Armas. Nun muß man wissen, daß wir normalerweise das Fahrzeug nie einfach irgendwo abstellen. Entweder finden wir einen bewachten Parkplatz oder wir beauftragen jemanden, gegen ein paar Soles auf Lucy aufzupassen. Wenn beides nicht möglich ist, packen wir zumindest alle Wertsachen in die Wohnkabine. Die ist mit zwei stabilen Schlössern wie eine Festung geschützt. Wer da rein will, ist gut beschäftigt.
In Nasca – ausgerechnet in Nasca – weichen wir ab von diesem Prinzip. Wir haben’s eilig, wollen raus aus dem Loch. Es ist halb elf Sonntag vormittags. Der Platz ist leicht belebt. Die Leute gehen in oder kommen von der Kirche, die sich auf der Ostseite der Plaza aufbaut. Einige sitzen auf den Bänken der Plaza und halten ein Schwätzchen. Alles ist friedlich. Sabine verschwindet in einem Telefonladen, ich erkundige mich nach einer Panaderia. Lucy behalte ich im Auge. Beim Metzger beschreibt man mir den Weg zur nächsten Bäckerei: einen halben Block tiefer auf der linken Seite. Hmm, da kann ich Lucy nicht mehr sehen. Soll ich schnell zurück gehen und jemanden darum bitten, auf sie achtzugeben? Ach was, in zwei Minuten bin ich wieder hier.
Beim Bäcker bin ich der einzige Kunde. Prima! Ich kaufe Gebäck für 3 Soles – umgerechnet einen Dollar - und drücke dem jungen Burschen 10 in die Hand. Natürlich gibt’s mal wieder kein Wechselgeld (das ist auch so eine nervige, peruanische Eigenheit: in den Läden können sie Dir nie, nie, nie ’rausgeben. Nicht einmal sieben mickrige Soles!). Der Junge trottet zum Nachbargeschäft, um Wechselgeld zu holen. „Mach schnell, chico, ich hab’s eilig“, sage ich, ohne es auszusprechen. Er kommt wieder, ich reiß ihm die Kohle aus der Hand und eile zurück zu Lucy. Aus den zwei Minuten sind fünf geworden, egal. Sabine ist auch gerade fertig mit telefonieren. Gemeinsam erreichen wir unser Fahrzeug. Als ich die Fahrertür aufschließen will, merke ich sofort, daß jemand am Schloß gewerkelt hat. Mir läuft ein Schauer den Nacken herunter. Ich reiße die Tür auf. Zwischen den Sitzen ist eine Ablage montiert mit Getränkehalter und Platz für Reiseführer. Meine Kameratasche ist davor deponiert. Jetzt ist da … nichts mehr!
Ich sage zu Sabine, meine Kamera ist weg – und dann schreie ich es noch mal: „Meine Kamera ist weg!!!“ Ich umkreise Lucy wie ein Geistesgestörter, laufe auf den Platz und wieder zurück, spreche - nein, brülle einen Menschen an, der da keine fünf Meter vom Fahrzeug entfernt auf einer Bank sitzt. Ich will wissen, ob er was gesehen hat. Doch ich bin so wirr im Kopf, daß ich keinen spanischen Satz zu formulieren vermag. Ich stammle vor mich hin, wanke über den Asphalt, starre die Straßen hinauf und hinunter … . Später werde ich keine Ahnung haben, was Sabine in diesen Sekunden, in denen ich umherirre, tut. Irgendwann steht sie vor mir und hält mich fest, nimmt mich in den Arm und läßt mich erstmal nicht mehr los.
Ich weiß nicht ob das jemand nachvollziehen kann: eine Kamera ist für einen Fotografen – oder zumindest für mich - mehr als nur ein Handwerkszeug. Sie ist … sagen wir … wie die alte Stradivari eines Konzertviolinisten; wie dieses eine Messer eines Gourmetchefs, ohne das er glaubt, einfach nicht kochen zu können. Meine Kamera ist eine ständige und treue Begleiterin auf allen meinen vielen Reisen. Der Ton ihres Auslösers ist mir so geläufig wie ein altes Lied. Die Macken und Kratzer an ihrem Gehäuse erzählen Geschichten von gemeinsamen Erlebnissen. Verbindet mir die Augen und ich könnte dennoch meine Kamera in jede x-beliebige Einstellung bringen. Sie ist mir so vertraut, als wäre sie eine alte Freundin von mir.
Nun ist sie weg!
Wir fragen uns zum Polizeirevier von Nasca durch. Keine viertel Stunde später sitzen wir in einem schmucklosen Kabuff vor einem schäbigen Pult, auf dem eine alte Adler Schreibmaschine steht. Dahinter nimmt Polizist Luis Alberto Flores Pomez unsere Meldung entgegen. Pommes (so wollen wir ihn von nun an nennen) ist keine 35 Jahre alt. Sein Gesicht ist aufgedunsen, sein Auftreten so selbstgefällig, wie es peruanische Polizisten nun mal lieben. Er schickt mich erstmal los, von meinem Reisepaß und meinem Führerschein eine Kopie anfertigen zu lassen. Da fang ich an, ihn nicht zu mögen. Gegenüber dem Polizeirevier ist ein Kramladen mit Kopierer. Ich eile hinüber. Minuten später hat Pommes die Kopien auf seinem Pult. Er stellt Fragen, die nicht weiterhelfen und fordert mich schließlich auf, ihm zu folgen. Sabine behandelt er so, als wäre sie gar nicht im Raum (darin lieben sie sich auch, die peruanischen Polizisten: im verächtlichen Ignorieren von Frauen).
Wir besteigen einen zerbeulten Nissan Pathfinder Pickup mit Polizeiaufschrift, lassen Sabine zurück und fahren zur Plaza de Armas. Pommes läßt sich von mir die genaue Stelle zeigen, an der Lucy stand, als der Einbruch stattfand. Er schaut sich flüchtig um, kneift die Augen zusammen, wie er das so oft in den Hollywood Filmen gesehen hat und kurvt wieder hinunter ins Polizeirevier. Das hat’s jetzt gebracht! Zurück im Kabuff setzt sich Pommes schwerfällig auf seinen Holzstuhl und teilt mir mit, ich müßte jetzt erstmal zur Banco de la Nación gehen, dort eine Gebühr bezahlen, die Quittung gut aufbewahren und um halb sechs abends wiederkommen. Er werde derweil mit Kollegen nach der Kamera suchen. Ob er keine Details über die gestohlenen Gegenstände brauche, will ich wissen. Nein, professionelle Kameraausrüstung reiche ihm.
Es ist etwa halb 12. Wir verlassen irritiert das Polizeirevier, bezahlen bei der Bank die Gebühr und finden an der Hauptstraße einen fahrenden Schlüsseldienst, der das aufgebrochene Schloß der Fahrertür ausbaut und es halbwegs wieder instand setzt.
Während wir warten, finden wir zum ersten Mal Gelegenheit und die notwendige Ruhe, über das Vorgefallene zu reden. Was können wir von der Polizei hier erwarten? Was können wir selber tun? Was muß geschehen, damit wir die Kameraausrüstung wiederbekommen? Die Polizei in Peru ist korrupt und bestechlich und weitgehend passiv, wenn es um einen Fall wie dem unsrigen geht. Das ist nicht etwa unser Eindruck. Das bestätigt Dir hier jeder Einheimische. Die geklauten Gegenstände sind so wertvoll, daß es denkbar ist, daß - selbst wenn sie wieder auftauchen - Pommes und seine Kollegen sich selbst damit bereichern. Vielleicht war es ein Fehler, der Polizei den wahren Wert der gestohlenen Dinge anzugeben. Andererseits, so reden wir es uns ein, wird es weder hier noch in der nächst größeren Stadt Ica einen Hehler geben, der auch nur annähernd einen angemessen Preis für das Equipment bezahlt. Setzen wir also eine Belohnung aus. Und zwar in Höhe von 500U$. Für Pommes (dessen Monatsgehalt wahrscheinlich niedriger ist) und seine Brüder sollte das hoch genug sein, um aktiv zu werden. Und in der Verbrecherszene von Nasca könnte die Summe verlockend genug sein, so daß womöglich der eine den anderen verpfeift.
Sofort fahren wir zurück zum Polizeirevier. Dort lehnt Pommes lässig an einem Pfeiler und plaudert mit einem Zivilisten. Soviel zu seiner Ankündigung, nach der Kamera zu suchen. Wir informieren ihn über die Belohnung. Da nickt er bedächtig und meint schließlich, er werde es weiterleiten und wir sollten wie vereinbart gegen halb sechs wiederkommen. Wir teilen ihm noch mit, wo wir unseren Stellplatz haben und fahren schließlich zurück ins Hotel Nido del Condor, wo wir – an einer schallgeschützteren Stelle – unser Plätzchen wieder aufbauen.
Eine Stunde später taucht überraschend Pommes auf. Ich solle mitkommen. Er werde einige Verdächtige und stadtbekannte Verbrecher aufsuchen und ausfragen. Die 500 U$ scheinen einen Hebel umgelegt zu haben. Wir setzen uns in sein Privatauto, einen in die Jahre gekommenen Toyota, und fahren in einen Bezirk von Nasca, wo die absoluten Verlierer der Stadt hausen. In dieser Geröllhalde gibt es keine Straßen, bestenfalls Pfade; keine Häuser stehen hier, nicht einmal Hütten. Die Menschen leben unter kargen Bäumen, geschützt durch herabhängende Planen. Sie schlafen auf aneinander geschobene, alte Autoreifen und tragen abgerissene Lumpen an ihren ausgemergelten Körpern.
Wir halten an, wo es mit dem Auto nicht mehr weitergeht. Pommes steigt aus, zieht seine Pistole aus dem Halter und entsichert sie. Jetzt werd ich nervös. Wir laufen über Schotter und Müll zum Lager eines alten zahnlosen Mannes. Der scheint seine Umgebung nur begrenzt wahrzunehmen. Pommes stellt einige Fragen und stochert mit seiner Waffe in den wenigen Habseligkeiten des Mannes: alte Klamotten, ein demoliertes Handy, ein Damenslip, die Hand einer Schaufensterpuppe ... . Wir gehen weiter zu einer Stelle, wo zwei volltrunkene Gestalten an einem kleinen Feuer sitzen. Es stinkt so erbärmlich nach Kot und Abfall, daß mir fast übel wird. Wieder beginnt Pommes mit seinem Auftritt und wieder ziehen wir nach wenigen Minuten weiter zum nächsten Lager. So geht das eine Stunde lang.
Was will Pommes hier, frage ich mich. Diese Leute sind von Hunger, Alkohol und Drogen so erledigt, keiner von denen wäre auch nur halbwegs in der Lage, unerkannt innerhalb von Sekunden eine Autotür aufzubrechen und zielgenau das wertvollste Teil zu entwenden. In mir kommt der Verdacht auf, daß hier ein korrupter Polizist puren, nutzlosen Aktionismus vorspielt. Mir ist nur noch nicht klar, was er damit bezweckt.
Auf dem Weg zurück zu unserem Stellplatz erzählt mir Pommes, daß er weitersuchen werde in entfernter gelegene Elendsviertel, daß aber sein Tank leer sei und ob ich ihm, da er ja schließlich für mich unterwegs sei, aushelfen könne. Ist es das? Spekuliert er mit seinem theatralischen Auftritt einfach nur auf eine kostenlose Tankfüllung? Tatsächlich sitzt der Zeiger seiner Tankuhr am linken Anschlag. Was soll ich machen?Sicherlich mich nicht mit ihm anlegen, nicht anfangen, zu argumentieren. Das kann mir in diesem Moment nur schaden. Vielleicht meint er es ja wirklich ernst mit seinen Bemühungen. Ich drücke ihm 100 Soles - etwa 30 U$ - in die Hand und bitte ihn so beherrscht und eindrücklich, wie es meine augenblickliche Stimmung zuläßt, seine Arbeit gut zu machen.
Anderthalb Stunden später holt mich Pommes wie vorher vereinbart wieder ab. Wir fahren zurück aufs Polizeirevier. An der Stellung des Zeigers seiner Tankuhr hat sich nichts verändert, dafür an seinen Schuhen. Nachdem wir vorher durch das Geröll marschiert waren, bedeckte eine graue Staubschicht das schwarze Leder. Nun glänzen sie wieder wie neu. Der Mann war überall, nur nicht in irgendwelchen abgelegenen Elendsvierteln.
Im Polizeirevier setzt Pommes mühevoll einen einseitigen Bericht auf. Das geschriebene Wort scheint seine Stärke nicht zu sein. Ich bekomme eine beglaubigte Kopie von dem Papier in die Hand gedrückt und zum Abschied den väterlichen Rat, weiterzureisen und den Profis die Arbeit zu überlassen. Pommes klopft mir gönnerisch auf die Schultern und verschwindet in ein Hinterzimmer. Was für ein Wichser! Ich stehe da wie ein begossener Pudel.
Inzwischen ist es dunkel geworden. Die Wüstenluft hat sich merklich abgekühlt. Müde, frierend und matt setze ich mich in ein Taxi und fahre zu Sabine. Wir kochen uns ein Paar Spaghetti, öffnen unsere letzte Flasche Concha y Toro Cabernet Sauvignon. Wir reden nicht viel an diesem Abend, und wenn wir schwingen, dann sicherlich nicht positiv. Wir beschließen, Pommes Vorschlag zu folgen: am nächsten Tag wollen wir weiterfahren nach Arequipa. Nicht, weil wir der professionellen Arbeit der Polizei von Nasca trauen, sondern weil uns diese Stadt krank macht. Wir verkrümeln uns in die Kabine wie zwei geschlagene Kämpfer, machen bald die Lichter aus, schmiegen uns eng aneinander, starren in die Dunkelheit und lauschen dem Dieselmotor um die Ecke.
Wie war das doch gleich? „Wird das Reisen zu leicht und zu bequem gemacht, so geht sein geistiger Sinn verloren“? Was für Schmarren! Was für ein ausgemachter Blödsinn! Hätte mir jemand in dieser Nacht in noch so tröstender Absicht diesen Spruch zitiert, ich glaube, ich hätte meine Ersatzkamera nach ihm geworfen … !
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