Alaska: Kenai Peninsula

Gäbe es eine Welthauptstadt der Rauhbeinigkeit, Anchorage – größte Stadt Alaskas - stünde auf der Liste der Anwärter an ziemlich aussichtsreicher Stelle. Hier wird grimmiges Auftreten als heiligeTugend gepflegt, die hoch geschätzte amerikanische Servicefreundlichkeit ist in langen Wintern hier oben irgendwann elendig erfroren. In einem Einkaufzentrum ging ich zum Friseur. Um 12.00 Uhr hatteich einen Termin, kurz vor zwölf spazierte ich hinein, und - ich schwöre - um neun Minuten nach zwölf war ich wieder draußen, um 28 Dollar leichter und mit einigen Kerben in meinem ansonstenunveränderten Haar. Ach ja - frisch gewaschen war es auch! Ich hätte natürlich auf etwas mehr Einsatzfreude bestehen können, doch wer weiß schon, wozu die finster dreinblickende Dame noch soalles in der Lage ist mit ihrer Schere!

 

Nun ist ja diese Stadt von einer wirklich einzigartig grandiosen Wildnis umgeben. Dieser Umstand - möchte man meinen - schafft ein respektvolleres Bewußtsein gegenüber der göttlichen Schöpfung imallgemeinen und der des eigenen Hinterlandes im besonderen – nicht so in Anchorage. Hier wird mit einer kindlichen Unbekümmertheit die Luft verpestet, die Ressourcen verschwendet und die Müllbergeerhöht, daß man nur noch fassungslos den Kopf schütteln kann. In einem der gehobeneren Hotels dieser Stadt (Diamond Inn), das wir uns gönnen, während Lucy zum fälligen Service in der Werkstatt steht,bekommen wir das Frühstück auf Einweggeschirr serviert - mit Plastikbesteck und braunem Kaffeeersatz in Pappbechern. Es ist eine Schande! (Einige Tage später haben wir ein langes, nettesGespräch mit einem älteren Ehepaar aus Virginia, das neben uns campt. Als wir so über Anchorage plaudern, meinen die beiden, in dieser Stadt endeten all jene, die für sich sonst keinen Platz imgroßen Amerika finden. So muß es wohl sein).

 

Wir holen Lucy aus der Werkstatt ab, und sehen zu, daß wir weiter kommen.

 

Die Kenai Peninsula südlich von Anchorage ist eine Sternstunde der Schöpfung! Entlang des Sterling Highways passieren wir im Herzen der Halbinsel Seen und Flüsse. Am Russian River kurz vor seinem Zusammenfluß mit dem Kenai River, biegen wir in eine Stichstraße ein, die uns nach drei Kilometern zu einem herrlich Campground führt. Schnell richten wir unser Lager, kümmern uns um etwas Brennholzfür den Abend und schnappen Kamera und Angel.

 

Wir laufen durch dichten Wald die wenigen hundert Meter hinunter zum Fluß. Dort erwartet ein uns faszinierendes Schauspiel: Im klaren Wasser quälen sich leuchtend rote Lachse die Strömung hinauf.Hier, an ihrer eigenen Geburtsstätte, laichen sie, um dann zu sterben. Zahlreiche tote oder beinahe verendete Fische spült der Fluß hinab ins Tal. Was für eine traurige, schöne Geschichte über Leben,Sterben und neues Leben. Wir gehen um die nächste Flußbiegung auf der Suche nach einem sonnigen Plätzchen und bleiben erschrocken stehen. Vor uns, keine 20 Meter entfernt: zwei Grizzly Bären.

 

Was haben wir nicht allesgelesen über unerwartete Begegnungen mit diesen gefährlichen Tieren, hier nun können wir unser erlerntes Wissen anwenden. Wir bleiben ruhig stehen, geben uns aber durch Sprechen und Armbewegungen zuerkennen. Einer der Grizzlies steht am anderen Flußufer und macht sich gerade über einen Lachs her, der andere sitzt im Wasser und scheint darauf zu warten, daß ihm das Abendessen von alleinezwischen die Klauen gespült wird. Eine durchaus vielversprechende Jagdmethode angesichts der Fischmenge im Wasser.

Beides sind Jungtiere, noch nicht voll ausgewachsen. Sie bemerken uns. Das ist derentscheidende Moment. Fühlen sie sich überrascht oder bedroht, werden sie gelegentlich aggressiv und greifen Menschen an. Wegrennen ist sinnlos. Braunbären können bis zu 55 Stundenkilometer schnelllaufen. Bei einem Schwarzbären kann man unter Umständen durch kräftige Faustschläge und lautes Brüllen das Tier in die Flucht schlagen, ein Braunbär läßt sich davon nicht beeindrucken, ist Dirund allen anderen Landsäugetieren überlegen. Nimm einen ausgewachsenen 400 kg Grizzly und einen Elefanten und laß sie gegeneinander antreten: Du schaufelst am Ende ein Grab für den Elefanten! Diewirkungsvollste Gegenwehr gegen einen attackierenden Braunbären ist ein spezielles Bärenspray, daß es in guter Qualität für rund 40 US$ in Fachgeschäften gibt. Unseres steckt in der Schuhkiste obenam Camp.

 

Die Grizzlies blicken auf und starren uns an. Sie beobachten uns eine ganze Weile und ... haben dann jegliches Interesse an uns verloren. Sabine möchte, daß wir uns vorsichtig zurückziehen, aber ein Foto muß sein. Langsam gehe ich in die Hocke, krame die Kamera aus der Tasche, wechsle das Objektiv, schaue durch den Sucher und drücke auf den Auslöser. Das Tier im Wasser hört das Geräusch undblickt noch einmal auf. Es schaut mich an mit gelassenem Ausdruck, der zu verstehen zu geben scheint: „dies ist meine Welt, Du bist hier nur geduldeter Gast, Mensch!". Dann kümmert der Bär sichwieder um sein Abendessen.

 

Schnell mache ich 20, 30 Belichtungen. Schließlich ziehen wir uns langsam rückwärts zurück und entfernen uns von der Szenerie. Einige hundert Meter flußabwärts bleiben wir am Ufer stehen und starren uns sprachlos an. Was für ein Naturerlebnis, was für eine wunderbare Welt, in der wir leben und von der wir uns so weit entfernt haben. Es sind solche Momente, die Maßstäbe zurechtrücken; wo Du Dich als untergeordnetes Element in einem Kosmos von unbeschreiblicher Schönheit erlebst; wo Du ein Gefühl wahrnimmst, daß in unserer Zivilisation eigentlich keinen Raum mehr hat: Demut.

 

In Old Kenai an derWestküste erreichen wir den Pazifik. Das ist ein besonderer Eintrag im Tagebuch wert: wir sind über den Landweg vom Atlantik zum Pazifik gereist, den beiden großen Weltmeeren! Auf einer Klippe überdem Wasser stellen wir Lucy ab und laufen runter an den Strand. Windig ist es, aber nachdem tagelang Wolken über uns hingen, reißt nun sogar der Himmelauf. Mit großen Schritten und geschwellter Brust laufen wir los. Die Sonne wärmt die Luft in einer letzten Anstrengung für diesen Sommer, nach einigen Hundert Metern ziehen wir Jacke und Schuhe aus,deponieren alles auf einem Felsen am Strand und marschieren übermütig weiter. Wir atmen die salzige Seeluft ein, genießen den Blick in die Ferne, den Sand unter unseren nackten Füßen und laufen undlaufen – und stellen viel zu spät fest, daß die Flut in einer rasanten Geschwindigkeit zurückkehrt. Eilig machen wir uns auf den Rückweg. Der Strand ist nicht sehr breit, am Ende steigt eine indiesem Bereich unüberwindliche Klippe auf. Angeschwemmtes Holz an deren Kante verrät uns, daß das Wasser den Klippenrand erreichen wird.

 

Immer höher steigt die Flut, immer näher an die senkrecht aufsteigende Felswand müssen wir ausweichen. Hier ist der Strand steinig, nicht sandig wie weiter unten, und wir sind barfuß. Die letzten paar Hundert Meter umspült bereits das Wasser unsere Füße. Als wir schließlich erschöpft die sichere Zone erreichen, da, wo wir unsere Schuhe und Jacken abgelegt hatten, ist der Felsen längst überspült, die Klamotten verschwunden. Wir schauen uns um undfinden sie weiter oben auf einem trockenen Stamm – durchnäßt und versandet zwar, aber in Sicherheit. Irgendein guter Engel an diesem nahezu menschenleeren Strand hat alles aus dem Wasser gefischt undaufs Trockene gelegt. Wir sind ihm nicht begegnet, konnten ihm nicht die Hand schütteln, sprechen aber ein Dankeschön ins Universum hinaus. Vielleicht hat er es gehört.

 

Das maritime Alaska istvon einer wilden Schönheit. Raue See umspült mehrere tausend Inseln und felsige Eiländer, Lebensraum für zahlreiche, vielfach bedrohte Wasservögel. Hier finden sie ein letztes Refugium. Wale, Seelöwen, Delphine und Otter schwimmen in den Meeren, an den Küsten steigen Vulkane und gletscherdurchzogene Berge auf. In Homer, dem südlichsten Zipfel der Kenai Peninsula, bleiben wir 2 Tage.

 

Wir erkunden die Strände entlang der Kachemak Bay und informieren uns im Alaska Islands And Ocean Visitor Center über die Bemühungen der National Oceanic & AtmosphericAdministration, dieses fragile Ökosystem zu erhalten. Hier wird aktiver Umweltschutz ernst genommen, werden kostenintensive Programme zum Schutz der Wildnis gestartet, hier wird informiert undein sensiblerer Umgang mit Alaskas einzigartigen Lebensräumen vorgeführt und eingefordert. Hier umgibt uns ein völlig anderes Bewußtsein gegenüber Umwelt und Natur als ein paar 100 Kilometer weiternördlich in Anchorage, und wir nehmen das mit großer Erleichterung zur Kenntnis.

 

In Seward, östlich von Homer, besteigen wir ein Boot und erleben auf einer 10-stündigen Tour das maritime Alaska hautnah. Das Boot zieht an Gletscher vorbei, wir beobachten Otter und Seelöwen undsehen in der Ferne mehre Wale. Die Luft ist kalt, die See ist rauh, der Wind fegt über das Deck - die Szenerie ist dramatisch und unvergeßlich.

 

Dann machen wir uns auf nach Haines, wo wir eine Fähre besteigen, die uns auf einer dreitägigen Schiffsreise entlang der Inside Passage zurück nach British Columbia/Kanada bringt. Inzwischen istes Anfang September, die ersten Frostnächte kündigen einen nächsten langen Winter an. Am Vortag unserer Abreise fällt in höheren Lagen Schnee, die Campingplätze schließen, in Alaska gehenbuchstäblich die Lichter aus. Wir verlassen dieses grandiose Land mit soviel unvergeßlichen Eindrücken und tiefgehenden Naturerlebnissen, daß der Abschied schwer fällt. Werden wir es jemals wiedersehen, seine karge Tundra, seine endlosen Wälder, seine schneebedeckten Berggipfel, seine rauhe See? Wir nehmen es uns ganz fest vor. Wir werden Alaska niemals vergessen.

 

Barry Lopez schreibt in seinem Buch "Arctic Dreams": „ Whatever evaluation we finally make of a stretch of land, however, no matter how profound and accurate, we will find it inadequate. The landretains an identity of its own, still deeper and more subtle than we can know."