Schlüpfriges und moralisches: Neu England

Nach dem letzten Bericht über New York meinte Sabine in ihrer hinreißend schnörkellosen Klarheit, ich solle mich weniger aufs Predigen und mehr aufs Geschichten erzählen konzentrieren. Nun gut, das will ich mir zu Herzen nehmen und also erzählen. Hier eine besonders nette Geschichte, die ich neulich las und die kein Witz ist: in Connecticut drohte man einer Frau mit Verhaftung, weil ein Sicherheitsbeamter Sie ertappte, wie sie ihr Kind stillte – diskret mit einer Babydecke über ihrer Schulter und der Welt den Rücken zukehrend, in ihrem Auto in einer abgelegenen Ecke eines Restaurantparkplatzes ... .

 

Oha! Wir sind im puritanischen Neu England. Wohlgemerkt in dem Teil Amerikas, der mehrheitlich gegen Busch gewählt hat. Und dennoch: Dinge, die in anderen Ländern kaum ein Wimperzucken hervorrufen, werden hier als gefährlich unmoralisch betrachtet.

Aber der Reihe nach: in Tappan überneh- men wir beim schweizer Autover- mieter Motouris einen nagelneuen Camper mit allen Annehmlichkeiten, die ein Amerikaner von einem Camper eben erwartet: über sieben Meter lang, üppiges Doppelbett, komplett ausgestattete Küche mit 3-Flammenherd, Backofen und Mikrowelle, optionaler HiFi-TV-Anlage (wir lehnen dankend ab) und selbstverständlich Dusche, Toilette und Bowling-Bahn im Heck ... .

 

Eine Woche werden wir mit dieser Festung unterwegs sein. Wir kurven das Schiff über abgelegene Highways New Yorks nach Connecticut, durch hügeliges Land und ausgedehnte Wälder vorbei an nette Städtchen die Poughkeepsi heißen, oder Canaan oder Mystik. Großzügige Häuser mit üppigen Veranden lassen auf erheblichen Wohlstand schließen und sind umgeben von akkurat gepflegten Gärten, in denen freundliche Menschen einander zuwinken. Vor den Doppelgaragen stehen mindestens drei Autos, und alle sind sie nagelneu und blitzsauber. Die für Neu England typischen weißgestrichenen Holzkirchen mit ihren spitzen Türmen dominieren den Ortskern, ansonsten reihen sich Kunstgalerien an Antiquitätenläden an Cafés an Kunstgalerien ...

Vor jeder Fassade, an jedem Lichtmast, ja selbst vom Glockenturm der Kirchen weht die amerikanische Flagge. Die Cadillacs und Chevrolets und Chrysler sind reichlich verziert mit allerlei Aufklebern, darauf stehen neben den Farben der USA Sprüche wie „one nation in God", „in God wie trust", „proud to be American" oder sehr häufig auch „support our troops". Ich weiß nicht: die Menschen taumeln geradezu in flammenden Patriotismus – auf mich wirkt es doch beklemmend (huch, ich wollte mich ja aufs Erzählen beschränken).

 

In Topsfield sitzen wir in einem Café, essen belegte Bagels und trinken Cappuccino, der sich leider nicht mit dem von Starbucks in NY messen kann. Der hübsche Laden ist ein kleiner Familienbetrieb, die nette, alte Dame hinterm Tresen kennt jeden Kunden beim Vornahmen und hat immer Zeit für einen kurzen Plausch. Da wird über die nächste Schülertheateraufführung gesprochen, die bevorstehende Feriensaison, das Wetter. Alles ist so adrett, so aalglatt, so unglaublich perfekt, wir kommen uns vor wie in einer Filmszene aus „The Truman Show".

In Massachusetts steuern wir Cape Cod an, eine Halbinsel, die wie ein dünner abgewinkelter Arm in den Atlantic ragt. An ihrem äußersten Zipfel klemmt sich das kleine Städtchen Provincetown in die Landenge.

 

Dort wollen wir einige Tage bleiben und tauchen in ein erfrischend anderes Amerika ab. Das Städtchen liegt traumhaft zischen den Wassern, die Häuser sind in knackigem pink, blau oder türkis gestrichen und neben den obligatorischen Stars-and-Stripes wehen Fahnen in den Regenbogenfarben an den Fassaden: Provincetown ist durch und durch schwul. Männer laufen händchenhaltend durch die Commercial Street und werfen mir im vorbeigehen vielsagende Blicke zu. In den Kunstgalerien stehen Holzschnitzereien von athletischen Körpern mit mächtig erigiertem Penis – Sabine macht eifrig Skizzen ... als Inspiration für ihre Töpferarbeit, wie sie einen Hauch zu nebenbei bemerkt.

 

Was für ein herrlich abgründiger Kontrast zur heuchlerisch erscheinenden Moral außerhalb der Ortsgrenzen. Wir durchstöbern schlüpfrige Buch- und räucherstäbchenvernebelte Klamottenläden, „inspirierende" Galerien und eine leckere Restaurantszene, mieten uns Räder und erkunden die umgebende Dünenlandschaft, sitzen am Strand oder stundenlang im Internetcafé, freuen uns da über reichlich Post von zuhause und aktualisieren unsere Webseite. Wir erleben unbeschwerte Tage und setzen Provincetown in unsere „hier-könnte-ich-leben"-Liste ziemlich weit nach oben.

 

Auf dem Weg zurück aufs Festland sehen wir Neu England mit versöhnlicheren Augen. Wo Platz ist für ein schwules Provincetown, scheint sich die amerikanische Angst vor einem katastrophalen Zusammenbruch jeglicher Moral zu relativieren. Und immerhin: kurz vor Boston, wo wir den gemieteten Camper wieder zurückgeben, überholt uns ein Wagen mit einem Aufkleber, auf dem steht: „Support the MOB, Mothers Opposing Bush!". Der Beetle kam aus ... Connecticut!